Friedrich Merz hat es geschafft: Nach vielen Jahren in der Politik ist er Bundeskanzler. Unter ihm setzt die CDU andere thematische Schwerpunkte als unter Angela Merkel. Welche Folgen das hat, erklärt nun ein Kenner der Partei.
Nach nicht ganz vier Jahren Ampelregierung bestimmt die Union wieder maßgeblich die Regierungspolitik. Schon seinen Wahlkampf führte der neue Bundeskanzler Friedrich Merz mit harten Worten in der Migrations- und Sozialpolitik. Zwei Bereiche, in denen er vieles anders machen will als die Vorgängerregierung: Grenzen stärker kontrollieren, Migration begrenzen, Bürgergeld reformieren.
Der Politikwissenschaftler und Publizist Andreas Püttmann kritisiert, in der CDU dominierten zunehmend Konservative und Wirtschaftsliberale, die Partei vernachlässige ihre christlich-sozialen Werte. Welche Rolle dabei die AfD spielt und wie sich das auf die Stabilität der Schwarz-Roten Koalition auswirken könnte, erklärt er im Interview.
t-online: Herr Püttmann, Sie kritisieren, die Union unter Friedrich Merz entferne sich von ihren christlichen Wurzeln, beziehen sich dabei auch auf die Rhetorik in der Migrationsdebatte. Meinen Sie damit auch Äußerungen von Friedrich Merz, der mal Jugendliche mit Migrationshintergrund als „kleine Paschas“ bezeichnete oder Ukrainern „Sozialtourismus“ attestierte?
Andreas Püttmann: Solche unsensiblen Etikettierungen sind nur ein Indikator von mehreren für die schwindende christliche Grundierung der Union. Zunächst sind sie allerdings mehr ein Hinweis auf die Persönlichkeitsstruktur von Friedrich Merz als auf sein Christsein.
Dass Merz gläubiger Katholik ist und versucht, sich an christlichen Werten zu orientieren, spreche ich ihm nicht ab. Das habe ich während seiner ersten Bundestagsphase in einem langen Gespräch über Arbeit und Muße in der Politik sowie bei Positionierungen etwa in bioethischen Fragen so wahrgenommen. Verbale Ausraster zeigen eher: Er hat sich nicht immer im Griff und ist manchmal zu impulsgesteuert.
Sie kritisieren dennoch, in der Union sei ein Abrücken vom Christlichen zu beobachten. Was genau meinen Sie damit?
Ich pauschalisiere da nicht, aber bei Funktionären des rechten Flügels und in den sozialen Medien ist rohe Bürgerlichkeit statt christlichem Takt vermehrt zu beobachten. Da werden ganze Menschengruppen herabgesetzt und demokratische Mitbewerber verächtlich gemacht. Hinzu kommt: Die CDU hat in ihrer Arbeit am neuen Grundsatzprogramm wichtige Inhalte des christlichen Menschenbildes wie die Gottesebenbildlichkeit zunächst vergessen, „Gott“ offenbar nachträglich in einen Relativsatz gefriemelt und christliche Zentralbegriffe reduziert. Zudem zwei bisher ausdrückliche Bezüge auf die christliche Sozialethik getilgt und sich eine „bürgerliche“ Zweitidentität zugelegt.
Andreas Püttmann, 1964 in Dinslaken geboren, ist Politikwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete für die Konrad-Adenauer-Stiftung, war Mitglied der Zukunftskommission der CDU und ist heute als freier Autor unter anderem für die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ sowie kirchliche Medien tätig. Püttmann beschäftigt sich vor allem mit Fragen des politischen Konservatismus und der Kirchenpolitik.
Hat sich die Union also von ihrem ursprünglichen Wertefundament entfernt?
Ein Stück weit ja. Wobei manche Ideen der Programmkommission unter Carsten Linnemann und Andreas Rödder ja auf Widerstand stießen, auch öffentlich, besonders beim Evangelischen Arbeitskreis und dem christlich-sozialen Flügel, mit gewissem Erfolg. Trotzdem hat man den Eindruck, die CDU hat ihre Strömungsbalance verloren.
Es ist ein Symptom der Parteikrise, dass maßgebliche Kräfte die Union offenbar in Richtung einer zweiten, größeren FDP treiben. Wirtschaftsliberale und erklärte Mittelstandsvertreter bis hin zu libertären Ausreißern geben mittlerweile den Ton an. Zeitweise waren alle Parteivizes von der Mittelstandsunion, dann auch noch der Generalsekretär. Innerhalb der Fraktion dominiert der Parlamentskreis Mittelstand. Der frühere CDA-Vorsitzende Karl-Josef Laumann wurde zwar im Mai 2024 zum Parteivize gewählt, er ist allerdings konfliktscheu, Merz treu ergeben und wirkt etwa im Vergleich zum kraftvollen, selbstbewussten Norbert Blüm eher wie ein Feigenblatt.
Warum ist der konservative Flügel der Union in den vergangenen Jahren so stark geworden?
Das ist nicht nur ein Problem der deutschen Christdemokraten. Konservative Kräfte haben in der gesamten westlichen Welt und darüber hinaus an Macht gewonnen und sind dabei zügelloser geworden.
Eine entscheidende Rolle spielt die Revolution der Kommunikation im Netz und speziell in den sozialen Medien. Dadurch schwindet der Einfluss der gesellschaftlichen Eliten – Politiker, Wissenschaftler, professionelle Journalisten – auf den öffentlichen Diskurs. Die radikale Basisdemokratisierung der Meinungsbildung bedeutet, dass unangemessen selbstbewusste Halbgebildete nun Ungebildete agitieren können. Die weniger kenntnisreiche, undifferenzierter denkende Masse wird im Staat wirksamer – im Sinne von José Ortega y Gassets soziologischem Klassiker „Der Aufstand der Massen“ von 1929. Dies ist meines Erachtens das Wurzelübel des Populismus, der um sich greift. Eine veritable Kulturkrise. Hinzu kamen Belastungen durch die wirtschaftliche und demografische Krise sowie die Pandemie, die als Katalysatoren für den Populismus wirkten.