Der Nahe Osten steht an einem Scheideweg. Deutschland müsse die Aufarbeitung begleiten, schreibt die Islamwissenschaftlerin und Grünen-Abgeordnete Lamya Kaddor in einem Gastbeitrag.
Der Geruch lässt mich seit meinem Besuch im Kibbuz Kfar Aza einige Wochen nach dem 7. Oktober 2023 nicht mehr los. Der Geruch nach Zerstörung erinnert allgegenwärtig an die Verbrechen, die die Hamas hier und in zahlreichen anderen Kibbuzim, Städten und auf dem Nova-Musikfestival einige Kilometer südlich von Kfar Aza angerichtet hat. Wer Aufnahmen davon betrachtet, dem gefriert das Blut in den Adern.
Der 7. Oktober ist eine Zäsur für den Staat Israel, für Jüdinnen und Juden weltweit und für alle Freundinnen und Freunde des jüdischen Staates. An diesem Tag wurde so viel jüdisches Leben ausgelöscht wie seit der Shoah nicht mehr. Es war der Beginn eines nun seit 365 Tagen anhaltenden Martyriums israelischer Geiseln und ihrer Angehörigen. Wer diesen Opfern ins Gesicht schaut, dem lassen ihr Leid und ihre angsterfüllten Blicke den Atem stocken.
Zehntausende andere israelische Zivilisten mussten im Norden und Süden ihre Häuser verlassen und können bis heute nicht zurückkehren, weil die notorischen Israel-Hasser und Existenzrechts-Verweigerer von der Hisbollah bis zur Hamas das Land ohne Sinn und Verstand mit Raketen überziehen. Hinzu kommen Angriffe der jemenitischen Huthi auf Israel und Schiffe im Roten Meer sowie Raketenbeschuss aus Syrien, Irak und dem Iran.
Der 7. Oktober war auch der Beginn einer beispiellosen Welle von weltweitem Antisemitismus, von Demonstrationen an Hochschulen, Anschläge auf Synagogen, Israelis und Menschen jüdischen Glaubens. Er hat ferner der islamistischen Radikalisierung dramatischen Auftrieb verschafft. Jüdisches Leben ist nun auch hier in Europa wieder direkt bedroht: von Dschihadistinnen und Dschihadisten, radikalen Musliminnen und Muslimen hin zu staatlichen Akteuren aus dem Nahen und Mittleren Osten.
Neben dem Geruch brennt sich bei einem Ortsbesuch der Lärm einschlagender Artillerie und Raketen ins Gedächtnis ein. Der Lärm bei meinem Besuch in Kfar Aza, keine fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt, steht außer für Tod und Leid für die Erschütterungen einer ganzen Region. In Gaza sind nach zwölf Monaten Krieg über 40.000 Menschen tot, weit mehr noch verwundet. Mütter weinen um ihre Söhne, Töchter um ihre Väter. Auch weil die Hamas sich feige, skrupellos und ohne jegliches Mitgefühl für das Leid ihres eigenen Volkes unter Zivilisten in Schulen, Krankenhäusern und Flüchtlingslagern versteckt.
Weite Landstriche sehen aus wie nach einem Erdbeben. Ein Großteil der Infrastruktur ist zerstört. Familien stehen vor dem Nichts. Es wird Jahre dauern, den Gazastreifen wieder aufzubauen. Ähnliches spielt sich aktuell in Teilen des Libanon ab. Auch im Westjordanland, in Syrien und dem Jemen wird gekämpft.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin, Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e. V. (LIB) und Abgeordnete der Grünen im Bundestag.
Schuld an dem Leid ist niemand anderes als die Hamas und all ihre Unterstützer. Um es klar zu sagen: Sie haben Israel diesen Krieg aufgezwungen. Der jüdische Staat tut, was jeder andere Staat mit Recht tun würde, der angegriffen wird – unabhängig davon, wer gerade die Regierung stellt. Der jüdische Staat muss aber stets noch einen Schritt weiter gehen als andere Staaten, denn für ihn ist jeder Krieg stets mit einer grundlegenden Existenzfrage verknüpft, treiben seine Gegner doch seit Jahrzehnten fanatische Auslöschungsfantasien an.
Jede Niederlage bedroht das Fortbestehen der jüdischen Heimstatt, die nach Jahrhunderten der Verfolgung, Ermordung und Vernichtung geschaffen werden konnte. Jeder Feind Israels wusste, was folgen würde, wenn man diesen Überlebensinstinkt herausfordert. Alles Leid geht ursprünglich auf das Konto der Hamas.
Derweil steht jedoch der erhoffte militärische Erfolg Israels längst nicht mehr im Verhältnis zu den zivilen Opfern. Vom Angriff am 7. Oktober nachvollziehbar überrascht und traumatisiert, ist das Land aus einer Position der Verwundbarkeit heraus der Logik gefolgt, dass eine militärische Machtdemonstration Abschreckung und damit Sicherheit wiederherstellt. Dabei hat es leider versäumt, eine politische Vision für die Zukunft zu entwerfen.