
Er ist auf jeden Fall zutiefst abergläubisch. Eine unserer Quellen, eine Person, die Putin gut kennt, schilderte einmal eine Szene, die für sich spricht: Bei einem Spaziergang durch seine Residenz lief Putin irgendwann zu Beginn seiner Herrschaft eine schwarze Katze über den Weg. In Russland gilt das als schlechtes Omen. Und was tat Putin? Er bekreuzigte sich. Daran ist nichts Schlechtes – es ist sehr menschlich. Aber es zeigt ein postsowjetisches Verständnis von Glauben, das Mystik und Aberglauben kombiniert.
Wie passt dieser Aberglauben zur Selbstdarstellung als Verteidiger traditioneller orthodoxer Werte? Die orthodoxe Kirche lehnt jede Form von Aberglauben ab.
Putin hat zwar den Mythos geschaffen, er sei ein konservativer Anführer, der traditionelle Werte verteidigt. Mit der Verteidigung traditioneller Werte hatte er aber nie etwas zu tun – und tut es bis heute nicht. Sein Verhältnis zur Familie, zur Religion, zum Glauben: All das steht im Widerspruch zu diesem Bild. Begriffe wie „traditionelle Werte“, die er ständig benutzt, sind inhaltlich leer. Putin ist weit entfernt von Familienwerten, weit entfernt vom Glauben. Putins Religiösität ist nur Theater. Er ist kein konservativer, traditioneller Anführer im westlichen Verständnis.
Wie gelingt es Putin dann, diese Widersprüche zu überdecken?
Innerhalb Russlands ist das relativ leicht zu erklären. Putin ist ein sehr „volkstümlicher“ Mensch. Er entspricht einem tief verankerten gesellschaftlichen Bedürfnis – denn viele Russen teilen seine demonstrierten Ansichten zu Religion, Familie und Moral. Dazu muss man wissen: Russland hat im 20. Jahrhundert extreme Brüche erlebt: Aus einem tiefgläubigen Land wurde ein Staat, der Religion bekämpfte und Kirchen sprengte. Nur um anschließend wieder zu einem Staat zu werden, der die orthodoxe Kirche verehrt. Diese radikalen Umbrüche haben Geschichte und Werte zerstört. Der durchschnittliche Russe hat deshalb kaum gefestigte politische Werte oder ein klares historisches Selbstverständnis. Putin ist in diesem Sinn selbst ein Produkt dieser Entwicklung.









