„KI-Ära“ ist Wort des Jahres: Künstliche Intelligenz ist längst im Alltag angekommen und hat eine Zeitenwende eingeläutet. Wer sie weiter für einen Hype hält, verschläft die entscheidenden Fragen.
Der Chatbot schreibt die Mail, ChatGPT übernimmt Denkprozesse, der Urlaub steht nach drei Prompts. Was wie Komfort klingt, ist in Wahrheit der Eintritt in eine Zone extremer Unruhe: Das Alte stirbt, das Neue ruckelt noch. Dass „KI-Ära“ das Wort des Jahres ist, trifft deshalb einen Nerv. Es ist die nüchterne Bestätigung: Die Technologie ist kein Hype. Denn in Deutschland und Europa sind die Menschen nicht mehr Zuschauer, sie sind längst Probanden, indem sie diese täglich nutzen.
Wie bei der Dampfmaschine geht es nicht um ein neues Spielzeug, sondern um einen neuen Unterbau für Wirtschaft und Gesellschaft.
Das Groteske daran: Die deutsche Politik behandelt diese tektonische Verschiebung wie eine Nischendebatte für Fachkongresse. Ein Blick auf die Infrastruktur entlarvt die politische Ignoranz als gefährliches „Souveränitäts-Theater“: Gefeiert werden Rechenzentren auf deutschem Boden, weil man damit die eigenen Daten sichert. Doch in den Serverschränken stecken fast ausschließlich US-Chips; Nvidias Marktanteil liegt bei erdrückenden 98 Prozent. Bei der Hardware bleibt die Abhängigkeit damit weiterhin groß.
Ebenso wie bei den KI-Modellen. Deutlich wird das etwa an der französischen Mistral-KI: Bejubelt als Hoffnungsträger für europäische Autonomie, musste die Firma dann doch in die Arme von Microsoft flüchten, um global überhaupt wettbewerbsfähig zu werden. Wenn am Ende US-Plattformen die Rechenlast tragen, bleibt europäische Souveränität nur eine Folklore-Veranstaltung.
Noch brutaler trifft Deutschland die Realität in den Schulen. Während andere Nationen KI als neue Basiskompetenz begreifen, herrscht in deutschen Klassenzimmern das Prinzip Verdrängung. Die Lebensrealität der Jugend ist dem System längst enteilt: Hausaufgaben werden mithilfe von ChatGPT generiert statt selbst erdacht, und auf dem Schulhof sorgt die App-Technologie für eine neue Dimension der Gewalt. „Nudification“ ist das Schlagwort: Per Knopfdruck werden Mitschüler auf Fotos virtuell entkleidet. Ein Massenphänomen, vor dem das Bundeskriminalamt längst warnt – und dem Lehrer oft hilflos gegenüberstehen.
Es drohen gefährliche Folgen. Forscher der University of Pennsylvania warnen vor der „kognitiven Schuld“: Wer das Denken dauerhaft an die KI auslagert, verlernt messbar die Fähigkeit zur Problemlösung. Fällt das Tool weg, stürzen die Leistungen ab. So wird eine Generation herangezogen, die Ergebnisse finden kann, aber den Weg dorthin nicht mehr versteht. Kinder müssen lernen, selbst zu denken und zu urteilen, und zugleich muss ihnen der korrekte Umgang mit der neuen Technologie beigebracht werden.
Dabei birgt die „KI-Ära“ nicht nur Gefahr, sondern macht auch Hoffnung: Im Siemens-Werk Amberg senkt sie bei der Kontrolle von Lötstellen den teuren Röntgen-Aufwand bereits um 30 Prozent. An der Berliner Charité überwacht sie Vitaldaten rund um die Uhr und schlägt bei einer drohenden Sepsis Alarm, noch bevor der Arzt Symptome sieht. Das ist kein Marketing. Das ist der Unterschied zwischen Stillstand und Fortschritt.












