Ein Neonazi gibt sich als Opfer eines angeblichen Machetenüberfalls von Linksextremen aus, um für abgehackte Finger Sozialleistungen zu beziehen. Weil das gelogen war, muss er Geldstrafe zahlen. Was wären drei verlorene Finger wert gewesen?
Alexander W. trug einen Verband um die verstümmelte Hand. Als der 29-Jährige sich im August 2023 im Krankenhaus fotografierte, schlug das hohe Wellen. Denn W. hatte der Polizei gesagt, er sei in Chemnitz von Antifa-Aktivisten mit einer Machete überfallen und verletzt worden. Verbreitet wurde, er habe ein T-Shirt des inzwischen verbotenen größten europäischen Kampfsportformats „Kampf der Nibelungen“ getragen, sei deshalb erkannt und angegriffen worden. Offener Krieg zwischen Links- und Rechtsextremen? Ein Fall für den Staatsschutz, es hätte noch viele Befragungen und Ermittlungen ausgelöst.
Doch das gefiel einigen Kameraden von Alexander W. nicht. Sie wussten, dass es anders war und drängten ihn, die tatsächliche Geschichte zu erzählen. „Wir sind alle aktenkundig und wollen in den Fall nicht reingezogen werden“: So erzählte es ein Neonazi vor einigen Wochen im Zeugenstand in Chemnitz. Der Fall hatte eine spektakuläre Wende genommen, weil Alexander W. schnell von der Ursprungsgeschichte abgerückt war.
Er hatte dann dem LKA einen anderen Ablauf geschildert, der ein völlig neues Bild ergab: Der aus der Dortmunder Neonazi-Szene in den Osten gezogene Alexander W. habe die Hand hingehalten und einen Bekannten mit einer mitsamt Griff fast 77 Zentimeter langen Machete zuschlagen lassen. Sein Plan sei es gewesen, als geschädigtes Opfer einer Gewalttat Rente zu beziehen. Durch seinen Internetverlauf fanden die Ermittler heraus, dass er bereits vor dem Vorfall nach Erstbehandlung von Amputationswunden gesucht hatte.
Bekannt waren zuvor Fälle, vor allem von Chirurgen, die in den 90er-Jahren einzelne Finger bei speziellen Ärztepolicen hoch versichern konnten. Für den Verlust von zwei Fingergliedern sollten mehrere Hunderttausend Euro gezahlt werden. Versicherungen stellten in Deutschland Dutzende Fälle fest, in denen gezielte Selbstverstümmelung vorlag.
Die Machete, die mit einer Klingenlänge von 47,3 Zentimeter auf Alexander W.s Hand niederging, ist eigentlich „fürs Grobe“ gedacht. So heißt es in einem Vorstellungsvideo des deutschen Jagdausrüsters Frankonia auf der Plattform YouTube. Mit dem mit zwei Händen zu führenden, fast 1,5 Kilogramm schweren Buschmesser können Jäger Pirschwege freischlagen oder Anzündholz zurechtschneiden. „Grob“ war aber offenbar auch das Ergebnis an jenem 15. August 2023. „Versehentlich“, so ergaben die Ermittlungen, wurden nur Zeige-, Mittel- und Ringfinger am unteren Glied abgetrennt. Der Bekannte von Alexander W., ein heute 38-Jähriger aus dem Erzgebirge, hätte eigentlich die ganze Hand abschlagen sollen.
Dafür hätte Alexander W. höhere Leistungen erhalten können, wie Holger Lange von der Bundesrechtsabteilung des Sozialverbands VdK erklärt. Der VdK hilft Menschen, berechtigte Ansprüche durchzusetzen. Wer Opfer einer Gewalttat wird und Gesundheitsschaden erleidet, kann einen Anspruch auf Opferentschädigung geltend machen, und wer eine Hand verliert, kann eine stärkere Beeinträchtigung anmelden als jemand, der nur Finger einbüßt.
Der Grad der Schädigungsfolgen (GdS), der den Ausschlag gibt, wird für den Verlust einer Hand oder aller fünf Finger mit 50 angegeben. Im Jahr 2023 sah das Gesetz unbefristet 311 Euro Grundrente für Betroffene unter 65 mit einem GdS 50 vor. Für den Verlust von nur drei Fingern hätte Alexander W. damals nach dem GdS 233 Euro monatlich bekommen, wenn er mit seiner Opfergeschichte durchgekommen wäre. Nach Inkrafttreten eines neuen Gesetzes sind die Leistungen um 25 Prozent angehoben worden, er würde demnach 291,25 Euro monatlich bekommen und der Betrag würde in der Zukunft weiter angehoben.
Beim Verlust von Fingern spielt für Opferentschädigung auch eine Rolle, welche Finger betroffen sind: Ein Daumen bedeutet einen Grad der Schädigungsfolgen von 25, der Verlust von drei Fingern einen GdS 40 (233 Euro Stand 2023), wenn Daumen oder Zeigefinger darunter sind. Sind die nicht betroffen, gilt GdS 30 (171 Euro Stand 2023). Zum Zeitpunkt des Vorfalls galt dafür das Opferentschädigungsgesetz. Die Höhe der Leistungen richtet sich nach dem Bundesversorgungsgesetz und einem Katalog mit GdS-Einstufungen. Seit dem 1. Januar 2024 ist diese Entschädigung im neuen Sozialgesetzbuch XIV geregelt. Dort wurden die Fälle zusammengefasst, in denen der Staat Bürger nicht ausreichend vor Gefahren geschützt hat – eben auch vor Gewalttaten. Bewilligte Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz wurden zum 1. Januar 2024 um 25 Prozent angehoben.
Alexander W. hat nach Bekanntwerden der tatsächlichen Hintergründe der Tat keine Aussicht auf das Geld. „Leistungen werden nicht gewährt, wenn die verletzte Person die Schädigung selbst mitverursacht hat“, so Lange. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat für solche Fälle eine eigene Ausarbeitung erstellt. Auch wer als Krimineller bei einer Tat verletzt wird, bekommt keine Entschädigung – wie insgesamt Fälle, in denen es aufgrund des Verhaltens „unbillig“ wäre, Entschädigung zu gewähren.