Die Karnevalssaison läuft auf Hochtouren – in Norddeutschland interessiert das allerdings kaum jemanden. Woran das liegt, erklärt ein Kulturwissenschaftler.
Kamelle fliegen, Bützchen werden verteilt, Menschen laufen in Kostümen durch die Straßen: Die fünfte Jahreszeit ist im Westen und Teilen Süddeutschlands der Hit. In Norddeutschland hingegen können viele mit Karneval oder Fasching gar nichts anfangen. Warum ist das so? t-online hat bei Professor Dr. Gunther Hirschfelder nachgefragt. Er ist vergleichender Kulturwissenschaftler und Karnevalsexperte.
t-online: Haben Sie jemals in Norddeutschland Karneval gefeiert?
Gunther Hirschfelder: Ich war gelegentlich schon im Norden unterwegs zu der Zeit. Aber Karneval gefeiert habe ich nur im Rheinland.
Weil die Norddeutschen nicht so gut Karneval feiern können?
Die Norddeutschen können überhaupt kein Karneval.
Karneval findet in Norddeutschland in einer begrenzten Form statt: Es ist ein Event, das an bestimmten Orten zeitterminiert und choreografiert durchgeführt wird – also nicht so stark in die Alltagskultur eingelassen ist wie etwa im Rheinland. Es ist ein Hybrid, der irgendwo zwischen altem Brauch in neuem Gewand, Festival und Volksfest liegt: Karneval im Norden ist ein Festival mit dekorativen Karnevalselementen. Aber bestimmte Formen, die es im Rheinland gibt, die lassen sich kaum übertragen.
Das sind ganz feine Unterschiede, die man entdeckt, wenn man genau hinschaut. Wir haben bei unserer Forschung in den Nullerjahren Stadtteile in Köln während des Karnevalszugs miteinander verglichen. Da gibt es zum Beispiel einen Stadtteil, in dem sich überwiegend Zugezogene aufhalten. Dort herrscht im Karneval kulturelle Orientierungslosigkeit. Das Interagieren läuft nicht so richtig, die Leute, die da hinkommen, sind Zuschauer.
So wie es auch die Norddeutschen im Kölner Karneval wären?
Ja, es sei denn, sie wären studentisch gekleidet. Denn wenn man sich im Vergleich dazu etwa ein Studentenviertel anschaut, dann verändern sich diese Gruppierungen. Da haben sie eine niedrigschwellige Form der Anbahnung einer vorübergehenden Paarbeziehung – um es im Soziologendeutsch auszudrücken. Zum Beispiel steht eine Gruppe von Studierenden vor einer Kneipe. Und gegenüber auf der anderen Straßenseite eine weitere. Da kommt mal einer rüber und tanzt eine Runde mit. Oder man gibt sich ein Küsschen auf die Wange. Die Leute merken untereinander, wer sie sind und was läuft. Dieses Erkennen ist anders. Da habe ich in den letzten Jahren immer wieder beobachtet: Mischen sich Gruppen von jungen Leuten mit Migrationshintergrund unter, sind sie zwar mit dabei, sie werden aber sofort als Außenseiter erkannt.
Gunther Hirschfelder, Jahrgang 1961, ist Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Als gebürtiger Gummersbacher ist er „gelernter Rheinländer“, wie er selbst sagt. Zu seinen Forschungsgebieten zählt unter anderem der Karneval. Hirschfelder lebt in Bonn.
Was prägt den Karneval in Köln noch?
Da kann man mal hinübergehen und zu einem Mädchen sagen „Dein Glas ist ja noch ganz voll, ich nehme mal direkt die Hälfte.“ Das machen Fremde eher nicht. Zudem ist es total altersgemischt. Da werden die Leute mit dem Rollstuhl hingefahren und haben eine Pappnase auf. Die Leute tanzen herum und sagen „Trink doch eene mit“ oder „Oma, willste Bützchen?“ Das kann ich mir an der Alster nur schwer vorstellen.
Und warum können die Norddeutschen kein Karneval?
Weil es dort nicht so verankert ist. Wenn wir uns das kulturhistorisch ansehen, ist die Sache ganz klar: Der Karneval – oder je nach Region Fasching oder Fastnacht – markiert eine vorgegebene Fastenzeit. Und die Fastenzeit und damit auch der Karneval sind katholische Angelegenheiten. In Norddeutschland befinden wir uns aber im protestantisch geprägten Raum. Dort ist man gegen das Fasten. Karnevalfeiern ergibt allerdings überhaupt keinen Sinn, wenn ich das vorösterliche Fasten nicht habe.
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Wie hat sich der Karneval im Rheinland entwickelt?
Im späten 18. Jahrhundert ist der Karneval in katholischen Gegenden ein aussterbender Brauch, der auf einmal als altmodisch gilt. Als 1815 die preußische Besatzung kommt und das Rheinland preußisch wird, lehnen sich die Rheinländer auf. Und erfinden sozusagen den Straßenkarneval und den Sitzungskarneval – mit den Uniformen, die eine Persiflage auf die preußischen Besatzungstruppen und ihre Uniformen sind. Deshalb gibt es diese Tänze mit Stippeföttchen und diese Verballhornung des Militärischen.