Für Harnverhalt lässt sich nicht immer eine körperliche Ursache finden. Kann es auch psychische Gründe haben, wenn eine Person nicht urinieren kann?
Harnverhalt bedeutet, dass Wasserlassen nicht mehr gelingt, obwohl der Harndrang deutlich spürbar ist. Da das sehr belastende und auch ernste Folgen haben kann, erfordert akuter Harnverhalt rasches ärztliches Eingreifen. In der Regel legt die Ärztin oder der Arzt zunächst einen Katheter, damit der Urin schnellstmöglich abfließen kann. Das ist aber nur die erste Sofortmaßnahme – die eigentliche Behandlung muss sich gezielt danach richten, was den Harnverhalt ausgelöst hat.
In vielen Fällen steckt eine körperliche Erkrankung oder Veränderung dahinter, etwa eine vergrößerte Prostata. Mehr zu den möglichen Ursachen erfahren Sie im Artikel Akuter Harnverhalt – mögliche Auslöser und was zu tun ist. Manchmal indes kann die Ärztin oder der Arzt bei der körperlichen Untersuchung keine Erklärung für den Harnverhalt finden. Dann liegt der Gedanke nahe, dass dieser psychisch bedingt sein könnte.
Ob und inwieweit Harnverhalt auch durch eine psychische Störung entstehen kann, ist bisher unzureichend erforscht. In der Fachliteratur finden sich allenfalls Hinweise auf einen sogenannten „psychogenen“, also durch psychische Probleme verursachten Harnverhalt. An gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen hingegen mangelt es noch.
Grundsätzlich steht aber außer Frage, dass psychische Probleme physische Beschwerden auslösen oder verstärken können. Außerdem werden insbesondere dauerhafte körperliche Symptome nicht selten auch zur seelischen Belastung.
Wenn immer wieder Schwierigkeiten beim Urinieren auftreten, für die Ärztinnen und Ärzte keine körperliche Ursache feststellen können, ergibt es somit durchaus Sinn, sich an eine psychotherapeutische Praxis zu wenden.
Eine Sonderform psychisch bedingten Harnverhalts ist die sogenannte Paruresis, umgangssprachlich auch als Pinkel-Angst und auf Englisch als „Shy Bladder Syndrome“ bezeichnet: Die Betroffenen können nicht urinieren, wenn jemand in der Nähe ist. Sobald sie für sich sind, gelingt es ihnen jedoch.
Was genau es mit diesem Phänomen auf sich hat, ist nicht geklärt. In der hierzulande gebräuchlichen Klassifikationssystem für Krankheiten, der ICD, kommt die Paruresis weder als eigenständiges Krankheitsbild noch als Symptom einer psychischen Erkrankung vor.
Das amerikanische Handbuch für psychische Störungen, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5), erwähnt die Paruresis nur als eine mögliche Ausdrucksform einer sozialen Phobie, welche wiederum zu den Angststörungen zählt.
Ebenso ungewiss ist, wie sich diese Form des Harnverhalts lindern lassen könnte. Auch hier könnte eine Psychotherapie hilfreich sein. Sichere Erkenntnisse zur Wirksamkeit gibt es aber bisher nicht.
Harnverhalt kann auch als indirekte Folge psychischer Störungen auftreten: Bei bestimmten Antidepressiva zählt Harnverhalt zu den möglichen Nebenwirkungen. Diese Medikamente sind nicht nur zur Behandlung von Depressionen zugelassen, sondern können auch in der Therapie bestimmter anderer psychischer Erkrankungen wie Angst- oder Zwangsstörungen zum Einsatz kommen.
Wer ein Antidepressivum einnimmt und Probleme beim Wasserlassen entwickelt, sollte sich unbedingt an seine Ärztin oder seinen Arzt werden, um gefährliche Folgen zu verhindern.
Wenn sich die Blase nicht mehr oder nicht mehr richtig entleert, ist eine Behandlung nötig – egal, ob die Ursachen körperlich oder psychisch sind. Andernfalls ist absehbar, dass die Beschwerden zur erheblichen Belastung werden. Zudem kann Harnverhalt ohne rechtzeitige Gegenmaßnahmen ernste Komplikationen wie zum Beispiel eine Schädigung der Nieren nach sich ziehen.