Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck analysiert bei „Caren Miosga“ das Erstarken der AfD. Er sieht einen internationalen Trend.
„Nach den Wahlen: Was wird aus Deutschland, Herr Gauck?“ lautete der Titel der Sendung am Sonntag. Gauck zeigte sich zwar besorgt, plädierte aber für kämpferisches Engagement anstatt einer „angststarren Zukunft“.
- Joachim Gauck, Bundespräsident a.D.
- Julia Reuschenbach, Politikwissenschaftlerin
- Steffen Mau, Soziologe
Er könne eine gewisse Beunruhigung über die Tendenzen der Wähler nicht verbergen, gestand Gauck und sprach in seiner Prognose von einem substanziellen Ost-West-Gefälle. „Wir werden lange unterschiedliche politische Kulturen haben in Deutschland. Das hängt aber nicht mit dem Charakter der Ostdeutschen zusammen. Viele denken ja, der Ossi sei undankbar, das ist Quatsch. Aber es gibt natürlich Unterschiede, und die zeigen sich beim Wählen.“ Man werde einen Wandel aber nicht „durch eine angststarre Zukunft erlangen, sondern durch ein kämpferisches Engagement“, so der Präsident.
Das Erstarken von Parteien wie der AfD dürfe man jedoch nicht als rein ostdeutsches Problem sehen, erklärte er. Das Grundphänomen sei auch kein spezifisch deutsches, sondern ein internationales. Es gebe in jeder Gesellschaft rund ein Drittel, das sich vor Wandel schützen möchte – dazu komme der Eindruck einiger Bürger, dass man nicht mehr sicher sei. „Das kann eine eingebildete Angst sein oder es können reale Erfahrungen sein“, konstatierte Gauck. „Ein großer Teil der Bevölkerung in ganz Europa hat dieses Gefühl, und die Vertreter der nationalpopulistischen Parteien wissen das. Sie sagen, das ist unser Triggerelement. Wenn wir das nach vorne bringen, dann sahnen wir ab bei den Ängsten dieses Teils der Bevölkerung. Das ist international.“
Das zweite Phänomen sah er in der ostdeutschen Geschichte begründet. „Die ostdeutsche Gesellschaft ist eine zutiefst von 56 Jahren politischer Ohnmacht geprägte Gesellschaft. Das unterscheidet sie vollkommen von der westdeutschen Gesellschaft. Die ostdeutsche Teilbevölkerung hat also keinen schlechteren Charakter, aber schlechtere Startbedingungen in die Existenz eines Bürgers, das heißt Autonomie, Eigenverantwortung. Der Wert der eigenen Meinung, die Rolle des Ichs in einer Gesellschaft – all das war völlig anders.“
Gauck widersprach der von vielen getätigten Aussage, dass es sich bei der AfD um eine Nazi-Partei handele. Es gäbe zwar Nazis in der Partei, wie in ganz Europa. Vielmehr gehe es aber um die Frage, warum sich viele zum Autoritären hingezogen fühlen. „Das Problem besteht nicht darin, dass eine übergroße Anzahl von Wählern in Europa Adolf Hitler zurückhaben will. Das Problem besteht darin, dass sie ihrer eigenen Kraft zur Gestaltung unseres Gemeinwesens weniger zutrauen als bestimmten Führungskräften. Sie möchten lieber Gefolgschaft sein unter autoritär geführten Personen à la Orbán und ähnlichen Typen. Diese selbstbestimmte, auf Debattenkultur beruhende offene Gesellschaft macht ihnen Angst. Und deshalb gibt es diese Anschlussform an die Naziideologie“, attestierte er.
Man würde jedoch einen Fehler machen, wenn man die Debattenkultur nur auf die Nazifrage beschränken würde. Das wirkliche Problem sei die „Sehnsucht nach autoritärer Führung und Unterordnung“ – diese Frage gelte es zu diskutieren.
Julia Reuschenbach sprach hingegen von einer Generation, die einen politischen Alltag ohne die AfD gar nicht mehr kenne und für die gewisse Tendenzen normal seien. „Wir sehen, dass das inzwischen einen Normalisierungsgrad erreicht hat, der bis dahin reicht, dass man T-Shirts trägt, auf denen steht: ‚Ja, dann bin ich halt rechtsextrem‘. Also es gibt auch gar keine Scham oder Hemmschwelle mehr, damit zu kokettieren.“
Steffen Mau sah ebenfalls eine ganz andere Sozialisierung der jungen Wählerschicht. „Das sind jetzt andere Bedingungen des Aufwachsens, andere Bedingungen der primären politischen Sozialisation. Das wird auch im nachfolgenden Lebensalter immer noch eine große Rolle spielen.“ Wenn man im jungen Alter die AfD wähle, würde man das später auch wieder tun. Eine große Rolle spielen hier auch die sozialen Medien, attestierte er – und sprach von einem „strukturellen Vorteil von Polarisierungsunternehmern“, die „zuspitzen, emotionalisieren, überziehen, übersteuern“.
Miosga zitierte Umfragen, die besagten, dass in Brandenburg 67 Prozent der Aussage zustimmen würden, dass Ostdeutsche an vielen Stellen noch immer Bürger zweiter Klasse seien. In Sachsen und Thüringen stimmten sogar 74 und 75 Prozent zu, so die Moderatorin. Daraufhin attestierte Reuschenbach, dass die AfD „im Grunde eine Rolle übernommen [hat], die wir ja lange Zeit der Linken zugeschrieben haben als die Stimme Ostdeutschlands.“