Die Regierung wurde noch nicht vereidigt, da streiten sich Union und SPD schon um den Mindestlohn. Dabei können sie laut Koalitionsvertrag gar nicht viel tun.
Der Koalitionsvertrag steht. Eigentlich haben sich Union und SPD in allen Streitpunkten geeinigt und die entsprechenden Kompromisse auf 146 Seiten zu Papier gebracht. Doch trotz der wochenlangen Verhandlungen herrscht noch immer nicht überall Klarheit. Besonders deutlich wird das beim Thema Mindestlohn.
Im Vertrag steht, dass ein „Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“ sei. Das legen die beiden künftigen Koalitionspartner aber sehr unterschiedlich aus. Für die SPD-Vorsitzende Saskia Esken ist klar: „Wir sorgen für höhere Einkommen, indem wir den Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen.“ Das betonte sie bei der Vorstellung des Vertrags.
CDU-Chef Friedrich Merz widersprach am Wochenende deutlich. „Das haben wir so nicht verabredet“, erklärte er. „Wir haben verabredet, dass wir davon ausgehen, dass die Mindestlohnkommission in diese Richtung denkt, es wird keinen gesetzlichen Automatismus geben.“ Noch deutlicher war zuvor Fraktionsvize Jens Spahn. „Dass wir so viel Wachstum und Lohnentwicklung haben, dass es nächstes Jahr schon gelingt, ist unwahrscheinlich“, sagte er hinsichtlich der 15-Euro-Grenze.
Die Kompromissformulierung wird nun zum Problem für die Parteien. Denn die Verhandler haben keine fixe Erhöhung auf 15 Euro festgeschrieben, wie es die Ampel zuvor mit dem Sprung auf 12 Euro getan hatte. Das bedeutet: Den tatsächlichen Wert wird wie in den vergangenen Jahren die Mindestlohnkommission bestimmen – doch die wurde von der Politik bereits deutlich unter Druck gesetzt.
Das liegt allerdings nicht unbedingt an den Worten des Koalitionsvertrags. Der Arbeitsmarktexperte Claus Schnabel von der Universität Erlangen-Nürnberg betont: „Die Formulierung im Koalitionsvertrag ist Wischiwaschi. Das ist keine klare Aussage, sondern nur ein politischer Formelkompromiss.“ So sei der Begriff „erreichbar“ die „vagste Formulierung, die man wählen kann. Ich habe noch nie eine so vage politische Aussage gehört.“
Prof. Dr. Claus Schnabel ist Inhaber des Lehrstuhls für Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dort beschäftigt er sich insbesondere mit Tarifpolitik und Lohnbildung. Zudem ist er Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Arbeitsmarkt und Arbeitswelt und Mitherausgeber des Journal for Labour Market Research.
Tatsächlich legt sich der Koalitionsvertrag an dieser Stelle auf keine konkrete Maßnahme fest. Eine fixe Anhebung auf 15 Euro, wie von Esken beschworen, wird es wohl nicht geben. Vielmehr liegt der Ball bei der Mindestlohnkommission. Die besteht aus Mitgliedern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite sowie einer Vorsitzenden, die letztlich entscheiden kann, wenn sich beide Seiten nicht einigen können. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die Mindestlohnkommission bei der Festlegung in Richtung 15 Euro bewegt.
Im Kooperationsvertrag steht auch der Satz: „Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns wird sich die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren.“ Diese Orientierung wird für die Entwicklung des Mindestlohns von großer Bedeutung sein.
Denn bisher hatte sich die Mindestlohnkommission bei der Festlegung lediglich an den Tarifabschlüssen orientiert. Nach einer Nullrunde 2023 folgte in den beiden vergangenen Jahren je eine Erhöhung um 41 Cent, sodass der Mindestlohn nun bei 12,82 Euro steht. Mit der Einbeziehung des Kriteriums von 60 Prozent des Medianlohns dürfte es künftig größere Sprünge geben. Mindestlohnexperte Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung betont, der Mindestlohn ginge in dem Fall „deutlich überproportional nach oben“.

Prof. Dr. Enzo Weber leitet den Forschungsbereich Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Dort ist er auch Mitglied der Arbeitsgruppe Mindestlohn. Zudem ist er Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg.
Ein großer Sprung beim Mindestlohn sei ein wichtiges Zeichen, so der Experte. „Würde man den Mindestlohn Jahr für Jahr mit der Tarifentwicklung fortschreiben, würde sich an der Lohnungleichheit nichts ändern“, erklärt Weber. Zuletzt habe es eine zu große Ungleichheit bei den Gehältern gegeben.
Geht man vom aktuellen mittleren Lohn in Deutschland aus, würden 60 Prozent etwa 14,80 Euro bedeuten – also nur leicht unter der 15-Euro-Grenze. Die große Frage ist nun, wie sehr die Mindestlohnkommission die beiden Aspekte Tariflöhne und Medianlohn einbeziehen wird. Claus Schnabel gibt zu bedenken: „Je nachdem, wie man diese beiden Aspekte gewichtet, kommt etwas anderes heraus.“ Die Mindestlohnkommission habe einen gewissen Spielraum und „kann selbst entscheiden, was sie priorisiert“.
Allerdings ist der zusätzliche Fokus auf die 60 Prozent des Medianlohns keine Erfindung der künftigen Koalition. Diesen Aspekt hatte sich die Mindestlohnkommission bereits im Januar in die Geschäftsordnung geschrieben – also weit vor den Verhandlungen. Ist das Bemühen der Parteien also umsonst gewesen, wenn die Kommission ohnehin Vorgehen und Höhe selbst bestimmt?