Die Krisengefahr in Deutschland wächst, doch im Bevölkerungsschutz verschleppt die Politik seit Jahren wichtige Vorhaben. Nun schlagen Experten und Hilfsorganisationen Alarm.
Russlands Krieg gegen die Ukraine, die Corona-Pandemie, die Flutkatastrophe im Ahrtal: Angesichts der wachsenden Kriegs- und Krisengefahr in Deutschland werden die Forderungen nach einer stärkeren Krisenvorsorge immer lauter. Vor allem der Ukraine-Krieg und Putins imperiale Bestrebungen haben hierzulande in Teilen der Bevölkerung zu einem Umdenken geführt.
Doch mit der „Zeitenwende“ und dem 100 Milliarden Euro schweren Bundeswehr-Sondervermögen beschränken sich die getroffenen Maßnahmen bisher weitgehend auf das Militärische. Im Falle eines Angriffs oder einer anderen Großkrise wären Hunderttausende zivile Kräfte erforderlich, um das Land am Laufen zu halten und die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.
Doch das viel beschworene Vorhaben, den Zivil- und Bevölkerungsschutz auf die Höhe der Zeit zu bringen, schieben die politischen Verantwortlichen seit Jahren vor sich her. Deutschland wäre auf ein Großschadensereignis nicht ausreichend vorbereitet, warnen nun sowohl Experten als auch Politiker.
Die Probleme sind vielfältig: Es fehle an Geld, Material, einer Strategie und klaren Zuständigkeiten, heißt es von Hilfsorganisationen. Der frühere Inspekteur der Streitkräftebasis der Bundeswehr, Generalleutnant a. D. Martin Schelleis, sieht die Republik schlecht aufgestellt: „Der Bevölkerungsschutz in Deutschland ist jahrelang sträflich vernachlässigt worden. Wir sind auf die nächste Pandemie oder einen Angriff durch einen Aggressor schlicht nicht ausreichend vorbereitet.“
Bei einem flächendeckenden Großschadensfall brauche man nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilpersonal, das die Bevölkerung schütze und den Staat funktionsfähig halte, so Schelleis, der mittlerweile als Beauftragter für Krisenresilienz bei den Maltesern tätig ist.
Eigentlich wollte die Politik den Zivilschutz seit Putins Ukraine-Überfall im Februar 2022 mehr in den Fokus rücken. Die Nationale Sicherheitsstrategie aus dem Juni 2023 legte den Grundstein, um äußere und innere Sicherheit künftig zusammenzudenken. Im Juni dieses Jahr folgten die „Rahmenrichtlinien Gesamtverteidigung“ (RRGV), die das Ampelkabinett kurz vor der Sommerpause verabschiedete und die zum Ziel haben, die zivile Komponente bei der deutschen Verteidigung zu stärken.
Die Idee der Rahmenrichtlinien: Angesichts einer Vielzahl von Bedrohungslagen im In- und Ausland arbeiten die Bundeswehr, Hilfsorganisationen und Zivilschutzbehörden in Krisenlagen Hand in Hand – mit klar verteilten Rollen und Aufgaben. Verteidigungsminister Boris Pistorius nannte die „Gesamtverteidigung Deutschlands“ eine „Aufgabe, zu der wir alle unseren Beitrag leisten müssen, staatliche und zivile Institutionen.“ Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) lobte den Beschluss als strategischen Meilenstein: „Die militärische und zivile Verteidigung haben wir eng verzahnt.“
Doch Experten zweifeln an der praktischen Umsetzbarkeit der Richtlinien. Schelleis nennt die bestehenden Konzepte zur zivilen Verteidigung – darunter auch die acht Jahre alte Konzeption Zivile Verteidigung (KZV) – „Stückwerk“. Eine Hilfsorganisation könne sich so nicht effektiv auf die zu befürchtenden Großschadenslagen vorbereiten. Stattdessen brauche es Pläne, die Aufgaben konkret beschreiben und entsprechend zuteilen.
Auch die staatlich für den Bevölkerungsschutz anerkannten Hilfsorganisationen werfen der Politik Tatenlosigkeit vor. In einem Positionspapier, das t-online exklusiv vorliegt, warnen Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz und die Johanniter vor einer mangelnden Vorbereitung auf den Ernstfall: „Das kostet wertvolle Zeit und im schlimmsten Fall Menschenleben“, heißt es dort (hier lesen Sie mehr dazu).
Zudem: Geld ist nicht das einzige Problem. Auch an einer klaren Zuständigkeit im Krisenfall mangelt es. Während die Länder den Katastrophenschutz verwalten, ist der Bund für den Zivilschutz verantwortlich. Der Bevölkerungsschutz ist also zwischen Bundes-, Landes-, und auch kommunaler Ebene zerfasert – was im Ernstfall zu Behördengerangel führen kann.
Manche sehen daher das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das dem Bundesinnenministerium unterstellt ist, stärker in der Verantwortung. Doch die Bundesländer und Kommunen – die im Krisenfall die Erstverantwortlichen sind – fürchten um ihre Entscheidungsautonomie. Kein Bürgermeister wolle bei einer Katastrophe Anweisungen aus Berlin erhalten, heißt es. Hinter den Kulissen spricht man von „Eifersüchteleien“ zwischen den Behörden.