Der Koalitionsvertrag lässt bei der Migration eine große Frage offen: Zurückweisungen ohne Zustimmung der EU-Partner – ja oder nein? Merz, der lange nach Rambo klang, scheint umzudenken.
Der Koalitionsvertrag ist durch – und damit die wichtigsten Probleme behoben? Mitnichten. Beim Thema Migration bleibt das Papier vage und wirft Fragen auf. Mancher in den Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD aber zeigt derzeit wenig Bereitschaft, sich diesen Fragen zu stellen. Da verweisen SPD-Fachpolitiker an die Pressestelle ihrer Fraktion, da sagen CDU-Abgeordnete spontan bereits gesetzte Gesprächstermine ab.
Das liegt vor allem an einem Thema: der Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen. Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD dazu einen Satz festgehalten: „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen.“
Uneins aber ist man sich offenbar noch immer, was „in Abstimmung mit den Nachbarn“ genau bedeuten soll. Will man nur zurückweisen, wenn die Nachbarländer zustimmen – oder notfalls den Alleingang wagen, die europäischen Partner nur informieren und so den Bruch mit ihnen und dem EU-Recht riskieren?
Mit dem radikalen Alleingang hatten CDU und CSU im Wahlkampf gedroht und für sich geworben. Die von ihnen versprochene große Wende in der Migrationspolitik sollte nicht zuletzt durch das Signal erreicht werden: Die deutsche Grenze ist für Asylbewerber dicht. Keiner, der bereits in einem anderen EU-Land registriert wurde, kommt mehr rein. Juristische und politische Bedenken? Zweitrangig.
Viel versprach da vor allem der künftige Kanzler Friedrich Merz selbst: Am ersten Tag seiner Amtszeit werde er durchregieren, versprach er. Das Innenministerium werde er per Richtlinienkompetenz anweisen, „ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise“ an den Grenzen zurückzuweisen. Das war im Januar, nach einer Messerattacke eines ausreisepflichtigen Afghanen in Aschaffenburg.
Kurz darauf brachte die Union ihren „Fünf-Punkte-Plan“ zur Migration nur dank Stimmen der AfD durchs Parlament. Punkt zwei in diesem Plan: die Zurückweisung aller Versuche illegaler Einwanderung. Das war damals Symbolpolitik ohne bindende Wirkung, durfte aber als Bekräftigung des bereits gegebenen Versprechens verstanden werden: Wir meinen das ernst.

Bei dieser Linie bleibt auch jetzt noch mancher in der Union. Der Zusatz im Koalitionsvertrag, „in Abstimmung“ mit den Nachbarländern vorzugehen, bedeute, dass „man nicht einfach unangekündigt in ein Nachbarland zurückweist“, sagte der CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries gerade „Zeit Online“. „Aber es heißt auch: nicht im Einvernehmen.“
Das dürfte übersetzt bedeuten: Zurückweisungen soll es in jedem Fall geben – mögen die Nachbarn auch protestieren.
Ganz anders interpretiert die SPD die Passage im Koalitionsvertrag. Sie lehnt einen deutschen Alleingang seit Monaten ab und pocht stattdessen auf rasche Umsetzung der über Jahre in der EU erkämpften Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Die sieht zahlreiche Verschärfungen vor, unter anderem: eine Verlagerung von Asylverfahren an die Außengrenzen der EU.
Dabei bleibt die SPD auch nach den Koalitionsverhandlungen: „Entscheidend ist Solidarität“, sagte der Innen- und Migrationspolitiker Lars Castellucci am Freitag im Gespräch mit t-online. „Kein Land sollte mit diesen humanitären Aufgaben alleingelassen werden, Deutschland nicht, aber auch andere Länder nicht.“
Castellucci betont bisherige Erfolge: Die Zahl der Asylanträge sei bereits stark gesunken. „Die sogenannte Asylwende ist längst vollzogen“, findet er. Noch-Innenministerin Nancy Faeser hatte Anfang April Bilanz für den Bereich gezogen: Im ersten Quartal dieses Jahres ist demnach die Zahl der Asylgesuche im Vergleich zum selben Zeitraum 2024 um 35 Prozent gesunken, im Vergleich zu 2023 um 49 Prozent.
Möglich mache das internationale Zusammenarbeit, findet Castellucci. Auch Zurückweisungen an den deutschen Grenzen könnten nur in Kooperation mit den Nachbarn funktionieren. Das müsse „vertraglich festgehalten werden“, entsprechende Personen müssten in die Hände der benachbarten Behörden übergeben werden. „Ansonsten suchen sie nur einen Weg ein paar Kilometer weiter über eine grüne Grenze.“