Ein Dissident rechnet ab: Vor geladenen Gästen muss sich der Bundespräsident im Schloss Bellevue die Leviten lesen lassen. Der Saal applaudiert, Steinmeier verliert die Contenance.
So düpiert wurde ein Bundespräsident selten. Im Schloss Bellevue, im eigenen Amtssitz. Vor geladenen Gästen, auch aus befreundeten Staaten. Die Feier zur Erinnerung an die friedliche Revolution in der DDR, die vor 35 Jahren letztlich zur Deutschen Einheit führte, geriet für Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag zur Blamage.
15 Minuten lang rechnete der Dissident und Schriftsteller Marko Martin am Rednerpult mit deutschen Lebenslügen zur Wende und sozialdemokratischen Irrungen in der Russland-Politik ab. Als er Steinmeiers Wirken als Außenminister direkt ansprach, brandete mitten ins ungläubige Staunen im Publikum spontaner Applaus auf. In der ersten Reihe applaudierten Steinmeiers Sitznachbarn.
Es ist einer der Momente, die sich ins kollektive Gedächtnis einprägen müssten. Wie Beate Klasfelds Ohrfeige für Kanzler Kiesinger. Wie Joschka Fischers obszöner Ruf in Richtung Bundestagspräsident. Wie Wolf Biermanns Bundestagsrede im Angesicht der Linken-Abgeordneten.
Steinmeier konnte von Glück reden, dass an diesem Tag die Augen auf den Rauswurf von Finanzminister Christian Lindner gerichtet waren – sonst wäre Medienvertretern vielleicht aufgefallen, wie der Bundespräsident, laut Schilderungen, den unliebsamen Redner im Anschluss empört zur Rede stellte.
Marko Martin bestätigte die Situation t-online: „Steinmeier ist wutentbrannt auf mich zugestürmt.“ Auch Umstehende konnten ihn demnach nicht beruhigen.
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Was hatte Steinmeier derart aus der Reserve gelockt?
Martin war gelungen, womit im Bundespräsidialamt offenbar niemand gerechnet hatte: Einen inhaltlich stimmigen Bogen von der ostdeutschen Revolution zur verfehlten Ostpolitik der SPD zu schlagen. Vom ideologischen Erbe der SED-Diktatur zu Egon Bahrs westdeutschem Chauvinismus gegenüber Osteuropa. Vom Friedensbegriff der Deutschen über Gerhard Schröder zu Nord Stream 2 und der Vollinvasion der Ukraine.
Die vermeintliche Aufarbeitung der Sozialdemokratie stellte er bloß: „Es scheint, dass die als Geo- und Realpolitik kaschierte Verachtung [gegenüber Osteuropa] noch heute fortwirkt. Schon wird Gerhard Schröder, nach wie vor reuelos großsprecherischer Duzfreund des Massenmörders im Kreml, vom neuen Generalsekretär der Kanzlerpartei garantiert, dass selbst für ihn weiterhin Platz sei in der deutschen Sozialdemokratie.“
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Mit eben jenem Statement hatte kürzlich der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch sogar innerparteilich schockiert. Martin blieb aber nicht bei Miersch stehen, sondern nahm sich Steinmeier direkt vor, der über viele Jahre die deutsche Außenpolitik verantwortete.
„Dies übrigens zum gleichen Entsetzen der Osteuropäer und gestandener Sozialdemokraten, mit dem sie 2016 aus dem Mund des damaligen Außenministers hören mussten, die Nato-Manöver an der Ostflanke, um die dortigen Demokratien zu schützen, seien ‚Säbelrasseln und Kriegsgeheul‘.“ Letzteres war ein direktes Steinmeier-Zitat.
„Säbelrasseln und Kriegsgeheul? Sehr geehrter Herr Bundespräsident, und bei allem Respekt und ohne jede wohlfeile Polemik: Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern ‚eine Brücke‘ – Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 –, als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte, und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her.“
Steinmeier blieb während der Rede ruhig, wirkte aber bereits verkniffen. Die Worte und die Situation im Schloss Bellevue brüskierten ihn dabei offenbar so sehr, dass er Martin im Anschluss zur Rede stellte.
„Sogleich war er auf jener Ebene, dass Politiker versuchen Probleme zu lösen und die Intellektuellen alles erschweren“, sagte Martin. „Das klang genau nach dieser Art Herrschaftswissen, nach deren Logik all die Normalsterblichen ja überhaupt keine Ahnung haben, die dort unten herumwuseln und schimpfen und moralisieren.“ Martins Fazit: „Für Kritik wurde ich offenbar nicht eingeladen.“