Bringt Schwarz-Rot die Wehrpflicht zurück? Patrick Sensburg, der Präsident des Reservistenverbandes, richtet im Interview einen dramatischen Appell an die Politik: Wenn die neue Regierung nicht zügig handle, „gefährdet sie die Sicherheit dieses Landes“.
Es ist einer der größten Knackpunkte der schwarz-roten Koalitionsverhandlungen: Braucht Deutschland einen verpflichtenden Militärdienst? Während sich die Union offen dafür ausspricht, setzt die SPD um Verteidigungsminister Boris Pistorius weiter auf Freiwilligkeit – auch wenn die Bundeswehr seit Jahren vergeblich um neue Kräfte wirbt. Die Entscheidung könnte bereits in den nächsten Tagen fallen.
Patrick Sensburg, CDU-Mitglied und Präsident des Reservistenverbands, appelliert an die Verhandler von Union und SPD, sich keine Illusionen zu machen. Das Potenzial, Freiwillige in die Truppe zu locken, sei ausgeschöpft. Die Bundeswehr könne ihren Auftrag nur mit einer Wehrpflicht erfüllen. Sensburg fordert zudem, die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland nicht auf Geld zu verengen, sondern die behördliche Regelwut zu beenden: „Wir haben die Bundeswehr bürokratisch in Ketten gelegt“, warnt der Oberst der Reserve.
t-online: Herr Sensburg, wie steht es drei Jahre nach Russlands Ukraine-Überfall um die deutsche Verteidigungsfähigkeit?
Patrick Sensburg: Die Sicherheit Europas ist so gefährdet wie lange nicht. Zwar fanden auch die Jugoslawien-Kriege in den 90ern in unserer direkten Nachbarschaft statt. Aber die rosarote Brille haben wir erst jetzt abgelegt. Dieses späte Wachwerden rächt sich nun. Zwar haben wir seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs Fortschritte gemacht – aber in entscheidenden Bereichen reichen sie noch nicht aus.
Patrick Sensburg ist Mitglied der CDU und saß von 2009 bis 2021 als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Seit 2019 führt er als Präsident den Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e.V., kurz Reservistenverband. Sensburg ist zudem Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen.
Vor allem bei den Massengütern. Im Krieg zählen keine Hochglanzprojekte, sondern leicht ersetzbare Massenware: Munition, Gewehre, Granaten, einfache Drohnen. Jahrzehntelang war die Strategie: klein, aber fein. Wir hatten uns auf Auslandsmissionen konzentriert und Systeme, die schnelle Erfolge und wenig Verluste bringen. Wir haben uns an Hightech-Geräten erfreut, auch die Rüstungsindustrie machte mit Spezialanfertigungen ein gutes Geschäft, obwohl die Stückzahlen klein waren. Aber für einen territorialen Verteidigungskrieg reicht das nicht. Wir brauchen wieder erheblich mehr Masse.
Hat sich die Lage bei der Munition verbessert? Zu Beginn der Ukraine-Invasion 2022 hieß es, die Bundeswehr könne im Ernstfall gerade mal zwei Tage schießen.
Unsere Munition reicht mittlerweile vielleicht für ein paar Tage mehr. Ausreichend für die Durchhaltefähigkeit ist es aber noch nicht. Wenn einer Armee im Krieg nach ein paar Tagen die Munition ausgeht, kann sie gleich kapitulieren. Der Nato-Standard ist 30 Tage. Wir werden nicht umhinkommen, in die Kasernen unter anderem diese alten Betonkästen mit Metalltür zu bauen, in denen die Munition gelagert war. Munitionsbunker wären auch ein sichtbares Signal von Durchhaltefähigkeit und Abschreckung.

Wie dramatisch ist die Materiallage?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor zwei Wochen wollten wir mit einer Einheit raus, um Orts- und Häuserkampf zu üben. Die Soldaten hatten aber nicht genug G36-Gewehre, also nahmen sie so genannte Blueguns, mit denen man nur begrenzt üben kann. Selbst für die aktive Truppe sollen für Übungsvorhaben in dieser Zeit nicht genügend Waffen vorhanden gewesen sein. In zivilen Zeiten vielleicht noch kein Drama, wenn man an die Front müsste, stünde man dem Feind aber ohne Waffe gegenüber. Das ist nicht hinnehmbar.
Das 100 Milliarden Euro schwere Bundeswehr-Sondervermögen sollte den Materialmangel zumindest etwas lindern. Wie erklären Sie sich das, dass es noch immer ausgerechnet an Standardausrüstung fehlt?
Politik muss nicht nur Geld bereitstellen, sondern Prioritäten setzen: Wofür brauchen wir schnelle Lösungen? Wir verlieren uns in Detaildebatten. Wir müssten zum Beispiel sagen: Wir schließen zuallererst unsere Munitionslücke. Das ist eine Erkenntnis aus dem Ukraine-Krieg. Das Einfache hat Bestand im Krieg. Umso komplexer eine Waffe, desto anfälliger ist sie. Die Kalaschnikow ist das beliebteste Gewehr in der Ukraine, obwohl das G36 sicherlich besser ist.
Was müsste sich ändern?
Wir müssen weg von der Debatte um das Geld, sondern wir müssen unsere Gesetze anpassen. Es gibt zu viele Regeln, die den Prozess lahmlegen. Wir haben die Bundeswehr mit endlosen Regeln bürokratisch in Ketten gelegt.