Gewalt gegen Frauen ist gesamtgesellschaftliches Problem. In Deutschland gibt es eklatante Schutzlücken. Die Gesetzgebung ist unzureichend.
Am Donnerstag hat ein Gericht in Frankreich den Ehemann von Gisèle Pelicot wegen schwerer Vergewaltigung zu 20 Jahren Haft verurteilt. Mit ihm standen 50 Komplizen vor Gericht. Alle wurden schuldig gesprochen und erhielten Haftstrafen in unterschiedlicher Höhe. Pelicots Ehemann hatte sie jahrelang immer wieder narkotisiert und gemeinsam mit weiteren Tätern vergewaltigt.
Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass der Fall Gisèle Pelicot weit mehr war als ein Kampf um Gerechtigkeit: Er war ein Angriff auf tief verwurzelte patriarchale Strukturen. Dafür steht ihr Appell: „Die Scham muss die Seiten wechseln.“
Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland: Laut dem Lagebild des Bundeskriminalamts erlebt alle drei Minuten eine Frau oder ein Mädchen häusliche Gewalt.
Die deutsche Gesetzgebung zu Sexualdelikten ist in den vergangenen Jahren zwar punktuell angepasst worden. Doch sie ist immer noch unzureichend. Bis 1997 war nicht einmal Vergewaltigung in der Ehe strafbar.
Warum Deutschland eine Reform braucht
Zuletzt wurde 2016 die sogenannte „Nein heißt Nein“-Norm eingeführt: Jede sexuelle Handlung gegen den „erkennbaren Willen“ einer Person gilt als Straftat. Doch diese Regelung ist problematisch, denn sie greift nicht, wenn ein Opfer sich in „Schockstarre“ (auch „Freezing“ genannt) befindet und sich deshalb passiv oder ambivalent verhält.
Schutzlücken wie diese werden den Anforderungen internationaler Vorgaben wie der Istanbul-Konvention nicht gerecht. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist ein völkerrechtlich bindendes Instrument zur umfassenden Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Es gilt seit 2011.
Dr. Carolin Weyand ist Fachanwältin für Strafrecht und Gründungspartnerin der Kanzlei Rettenmaier Frankfurt. Seit mehr als 17 Jahren berät sie Unternehmen und Privatpersonen mit Schwerpunkt auf Wirtschafts-, Steuer- und allgemeinem Strafrecht. Sie ist eine führende Expertin für die Aufarbeitung von #MeToo-Fällen und engagiert sich für gerechtere Strafverfahren sowie die Reform des Sexualstrafrechts in Deutschland. Als ausgezeichnete Juristin prägt sie die Rechtspraxis und setzt wichtige gesellschaftliche Impulse. Im März 2025 wird sie als Teil der Delegation von UN Women Deutschland an der 69. Sitzung der UN-Frauenrechtskommission (FRK) in New York teilnehmen.
Die Umsetzung in Deutschland ist noch immer unvollständig. Darum ist ein grundlegender Paradigmenwechsel notwendig: die Einführung der „Nur Ja heißt Ja“-Regelung. Sie würde sexuelle Handlungen ohne vorherige Zustimmung durch Worte oder schlüssiges Verhalten kriminalisieren.
Neben Frankreich diskutieren derzeit auch andere europäische Länder wie Dänemark und Griechenland diese „Zustimmungslösung“ einzuführen. Schweden und Spanien haben sie bereits erfolgreich implementiert.
Indem Gisèle Pelicot bewusst die Öffentlichkeit des Verfahrens verlangte, hat sie zudem eine Botschaft gesendet, die weit über die Grenzen Frankreichs hinaus wahrgenommen wird: Sexualisierte Gewalt ist kein Tabuthema. „Wir müssen darüber reden“, sagte Pelicot im Prozess.
In Deutschland sind Prozesse in der Regel öffentlich. Allerdings kann das Publikum bei Sexualstraftaten auf Antrag der Betroffenen ausgeschlossen werden. Deshalb finden viele Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Es ist möglich, dass Frauen von Pelicots Haltung nun inspiriert und ermutigt werden, ihre Sexualstrafverfahren öffentlich verhandeln zu lassen. Es wäre ein Schritt, der die gesamtgesellschaftliche Diskussion über sexualisierte Gewalt vorantreiben würde.
Ob dieser Weg der richtige ist, muss jedoch jede Frau im Einzelfall für sich abwägen. Denn er verlangt enormen Mut und auch innere Stärke.
Längst nicht jeder Strafprozess wegen Vergewaltigung endet mit einer Verurteilung, und auch nicht jeder Angeklagte ist schuldig. Eines hat Gisèle Pelicot jedoch eindrucksvoll bewiesen: Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch können mit erhobenem Haupt den Gerichtssaal betreten und wieder verlassen.
Sexualisierte Gewalt ist ein Ausdruck struktureller Ungleichheit. Solange patriarchale Denkweisen und Besitzansprüche auf Frauen in Strafverfahren mitschwingen, bleibt der Weg zur Gerechtigkeit steinig.
Der Mut von Gisèle Pelicot hat Frankreich wachgerüttelt. Jetzt ist es an Deutschland, den Weckruf zu hören. Wir brauchen eine Reform des Sexualstrafrechts, die patriarchale Strukturen aufbricht. Eine „Nur Ja heißt Ja“-Gesetzgebung würde nämlich nicht nur objektiv bestehende Schutzlücken für Opfer von Sexualstraftaten schließen, sondern auch eine weitreichende gesellschaftliche Bewusstseinsänderung einleiten. Nur so können wir dem Ziel einer wirklich gleichberechtigten Gesellschaft näherkommen.