Die Deutschen werden immer älter – mit langfristig gravierenden Folgen auch für den Staatshaushalt. Ein neuer Bericht der Regierung kommt zu einem mahnenden Ergebnis.
Es sind 94 Seiten, die einem Menetekel gleichen: Deutschlands Staatsfinanzen drohen langfristig in extreme Schieflage zu geraten – sofern die Bundesregierung angesichts des schwachen Wirtschaftswachstums und der alternden Gesellschaft nicht gegensteuert und nicht an der Schuldenbremse festhält.
Zu diesem Ergebnis kommt der sogenannte „Tragfähigkeitsbericht“ der öffentlichen Finanzen, den Finanzminister Christian Lindner (FDP) nächste Woche dem Kabinett präsentieren will. Das Papier, das pro Legislatur einmal erscheint, liegt t-online vor. Zuvor hatten die Deutsche Presse-Agentur und das „Handelsblatt“ berichtet.
Im schlimmsten Fall, so die Prognose von unabhängigen Experten, die einen Großteil zu dem Bericht beitragen, dürfte die Staatsverschuldung demnach von heute 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf bis zu 345 Prozent im Jahr 2070 steigen. „In einem günstigen Szenario steigt die Quote bis zum Jahr 2070 immerhin noch auf rund 140 Prozent des BIP“, heißt es weiter.
Schuldenbremse verhindert das schlimmste Szenario
Voraussetzung für diese enorm hohen Zahlen: Die Schuldenbremse gelte nicht mehr – und die Kosten für den Sozialstaat, insbesondere für die Rentenversicherung, liefen mit einer weiteren Alterung der Gesellschaft aus dem Ruder. Entsprechendes Lob findet der Bericht angesichts dessen für die jüngst beschlossene Anhebung der Rentenbeiträge in den kommenden Jahren: „De facto verhindern Beitragssatzanpassungen in den Sozialversicherungen und die Schuldenbremse den projizierten Anstieg der Schuldenstandsquote.“
Im Klartext heißt das: Es muss nicht so dramatisch kommen, wie im schlimmsten Fall vorhergesagt. Dafür aber muss die Bundesregierung mit Blick auf die Alterung der Gesellschaft jetzt die richtigen Weichen stellen.
Der Tragfähigkeitsbericht gilt als Frühwarnsystem. Er zeigt, welche Folgen die Alterung der Gesellschaft für die Staatsfinanzen hat – weitere Belastungen wie der Klimawandel und mögliche künftige Krisen werden dabei außen vor gelassen. Der Bericht wird auf Grundlage eines Gutachtens externer Wissenschaftler einmal pro Legislaturperiode vom Finanzministerium erstellt. Die Modellrechnungen sind rein hypothetisch und gehen davon aus, dass sich die Politik nicht ändert.
Jeder Dritte 2070 älter als 66 Jahre?
Für den Bericht arbeiten die Wirtschaftsexperten mit einem Modell, in dem sie die Ausgaben des Staates für die Alterung der Gesellschaft schätzen, also etwa Ausgaben für die Alterssicherung, Gesundheit oder Pflege. Grundannahme des Modells ist dabei unter anderem, dass die Deutschen insgesamt immer älter werden. Heute sei etwa jede fünfte Person in Deutschland älter als 66 Jahre, im Jahr 2070 könnte es fast jede dritte sein.
Bei dem aktuellen Tragfähigkeitsbericht handelt es sich um die sechste Auflage. Die fünfte erschien vor vier Jahren. Gegenüber der damaligen Fassung hat sich die langfristige Perspektive der Staatsfinanzen noch einmal verschlechtert – und das, obwohl Deutschland von mehr Zuwanderung profitiert, die die Alterung der Gesellschaft verlangsamt.
„Die Verschlechterung im Vergleich zum letzten Bericht im Jahr 2020 ist auch auf die wirtschaftlichen Eintrübungen in Folge der jüngsten Krisen zurückzuführen“, heißt es in dem Bericht. „Durch die der Corona-Pandemie 2020/21 und des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und der dadurch ausgelösten Energiepreiskrise im Jahr 2022 hat sich die Ausgangslage der deutschen Wirtschaft und damit auch der öffentlichen Finanzen stark verschlechtert.“
Milliardenloch im Staatshaushalt
All das führt zu einem Phänomen, das der Bericht als „Tragfähigkeitslücke“ bezeichnet. Gemeint ist damit ein Betrag, gemessen in Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, der dem Staat in seinen Finanzen fehlt.
Diese Lücke wird über die Zeit immer größer: Im Jahr 2070, dem Ende des Projektionszeitraums, könnte sie im günstigsten Fall 2,67 Prozent vom BIP betragen und im schlechteren Fall 6,93 Prozent. Gemessen an der aktuellen Wirtschaftsleistung müsste der Staat damit also zwischen 110 Milliarden Euro und rund 285 Milliarden Euro weniger ausgeben oder mehr einnehmen.
Lücken dieser Größenordnung, so heißt es weiter in dem Bericht, ließen sich in der mittelfristigen Finanzplanung nicht durch Sparanstrengungen bei den Ausgaben oder eine Erhöhung der Einnahmen schließen. Aber: „Vielmehr sollten die ausgewiesenen Lücken als Signal verstanden werden, dass die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen kein Selbstläufer ist.“