Vergessen wir, was wir machen wollten, sobald wir aus dem Zimmer gehen, sprechen Experten vom Türschwelleneffekt. Warum das Gehirn vergisst.
„Was wollte ich doch gleich …?“ Viele kennen das Phänomen: Man möchte etwas machen, geht aus dem Zimmer und plötzlich ist der Gedanke weg. Ein Experte erklärt, was hinter dem Türschwelleneffekt steckt und warum ein Zimmerwechsel uns häufig vergesslich macht.
Man steht auf, möchte etwas erledigen, geht durch eine Tür und – weg ist der Gedanke. Da dieses Phänomen weitverbreitet ist, haben Experten ihm einen eigenen Namen gegeben: Türschwelleneffekt oder „doorway effect“. Doch warum vergisst das Gehirn so plötzlich? Und warum kommt die Erinnerung wieder, wenn man in den Raum zurückgeht, in dem man den Gedanken hatte?
„Beim Türschwelleneffekt handelt es sich um eine ganz eigene Art des Vergessens. Das Gehirn löscht eine Information aus dem Kurzzeitgedächtnis, sobald man eine Tür durchschreitet. Zurückzuführen ist das auf die Art und Weise, wie das Gehirn Informationen und Ereignisse strukturiert“, erklärt Dr. Andreas Hagemann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Dr. Andreas Hagemann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztlicher Direktor der unter anderem auf Burn-out und Stresserkrankungen spezialisierten Privatkliniken Duisburg, Eschweiler und Merbeck.
Laut dem Experten speichert das Gedächtnis Ereignisse in kleinen, abgeschlossenen Episoden. Jedes Mal, wenn man eine neue Handlung beginnt – oder einen anderen Raum betritt – bildet das Gehirn eine neue Episode. Gehen wir von der Küche ins Bad, stuft das Gehirn dies als Signal für den Abschluss einer Episode ein. Gilt die Küchenepisode als beendet, kann das zur Folge haben, dass das Gehirn nicht nur die Handlungen in der Küche, sondern eben auch die dazugehörigen Gedanken als abgeschlossen einstuft. Das macht das Erinnern schwerer.
„Man kann den Türschwelleneffekt mit einer Serie vergleichen, in der eine Episode abgeschlossen ist und die nächste – der nächste Raum – daran anknüpft. Nicht alle Details sind wichtig, und wenn ich etwas vergessen habe, muss ich versuchen, mich zu erinnern oder zurückzuspulen und mir die letzte Episode noch einmal anschauen. Dann kommt die Erinnerung an das entsprechende Detail zurück“, erklärt Hagemann.
Komplett gelöscht ist der Gedanke nicht. Geht man in das Zimmer zurück, bekommt das Gehirn das Signal, dass die Gedanken wichtig waren – und stellt sie wieder bereit. Sie bekommen nun eine höhere Priorität zugewiesen – und gehen beim erneuten Verlassen des Raumes nicht wieder verloren.
Manchmal kehrt die Erinnerung auch zurück, wenn man im neuen Raum innehält und überlegt, was die letzte Tätigkeit war. Dank dieser Rückblende kommt oft auch die dazugehörige Intention zurück. Manchmal taucht der Gedanke auch erst viel später wieder auf – wenn man zur Ruhe kommt.
„Der Türschwelleneffekt tritt besonders dann auf, wenn wir nicht fokussiert sind, sondern mehrere Sachen gleichzeitig im Kopf haben oder gestresst sind. Dann wirken Stresshormone wie Cortisol verstärkt auf das Gehirn ein. Die Gehirnleistung nimmt ab. Das Gehirn weiß dann nicht, worauf es sich konzentrieren soll und was gerade von Bedeutung ist“, erklärt Hagemann. „Es strukturiert schlechter und es kann passieren, dass eigentlich Relevantes aussortiert wird.“
Im Alltag vergessen wir ständig Sachen. Ist das normal? Oder ein Hinweis auf Demenz? Der Experte beruhigt. Vergesslichkeit sei ein natürlicher Vorgang im Gehirn. Würde das Gehirn alles speichern, wäre es völlig überlastet. Regelmäßige Aufräum- und Sortierprozesse seien absolut wichtig.
Kommt die Erinnerung zurück, wenn man zur Ruhe kommt und sich konzentriert, braucht man sich in der Regel keine Gedanken zu machen. „Dann sind es meist Stress und Ablenkung, welche die Gehirnleistung kurzzeitig schmälern“, sagt Hagemann. „Aufmerksam werden sollte man, wenn Vergessenes immer häufiger nicht wieder erinnert wird oder die Vergesslichkeit den Alltag zunehmend belastet. Dann sollte man die Leistungsfähigkeit des Gehirns untersuchen lassen.“