Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
fünf Tage ist die Bundestagswahl heute nun schon her, und ich vertraue Ihnen ein kleines Geheimnis an: In diesen nachrichtenreichen Tagen vor und nach dem 23. Februar verzweifelt das Sportressort von t-online öfter an den Chefinnen und Chefs vom Dienst, die in der Redaktion dafür zuständig sind, die Artikel auf der Homepage zu gewichten und zu positionieren.
TV-Duelle, Umfragen, Wahltag, erste Hochrechnungen, amtliches Endergebnis und dessen Folgen, dazu Chaos in den USA, der Krieg in der Ukraine, der Konflikt im Nahen Osten – für uns natürlich trotzdem völlig unverständlich, dass da für das Topspiel der 2. Fußball-Bundesliga oder die Biathlon-WM kein prominenter Platz ist. Immerhin aber, das sei zur Ehrenrettung erwähnt, geben sich die rührigen Kolleginnen und Kollegen alle Mühe, auch dem (unserem) Weltmittelpunkt Sport die ihm gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Bei aller verschmerzbaren Verzweiflung über die lieben Kolleginnen und Kollegen aber gibt es für uns auch Grund zur Freude. Mit etwas Pathos sogar Grund, ein wenig stolz zu sein – auf unser sportliches Hauptthema, den deutschen Profi-Fußball. Denn Deutschlands populärster Sport, seine Klubs, seine Verantwortlichen, zuallervorderst aber seine Stars, sie haben rund um die Bundestagswahl unter Beweis gestellt: Sie haben verstanden, worum es geht – und sich eindringlich für eine der fundamentalsten Bürgerpflichten jeder offenen Gesellschaft eingesetzt: den Erhalt der Demokratie.
Von Torwart-Grande Manuel Neuer über dessen Teamkollegen beim FC Bayern München, Jamal Musiala und Serge Gnabry, bis hin zu Borussia Dortmunds Julian Brandt oder Meister und Pokalsieger Bayer Leverkusen mit Abwehrchef Jonathan Tah: Die mithin größten Namen im deutschen Fußball, dessen mitgliederstärkste Klubs und mehr haben vor dem Wahltag geworben für die so wichtige Partizipation, für Teilnahme, für politische Mitentscheidung.
„Deine Stimme zählt. Geh wählen. Bring Dich ein“, spricht beispielsweise Musiala mit ansteckend motiviertem Tonfall in die Kamera, und wenn es bei allem höchst erfreulichen Engagement einen Kritikpunkt gibt, dann den, dass die knackig kurzen Clips hauptsächlich über den Instagram-Kanal der in der Öffentlichkeit nicht ganz so präsenten Stiftung der Deutschen Fußball-Liga (DFL) in die Welt hinausgekabelt wurden. Possierliche 6.666 Follower kann dieser vorweisen. Immerhin wurde die auf die letzten Tage vor dem 23. Februar ausgelegte Aktion aber beispielsweise auch zusätzlich angetrieben durch den ungleich zugkräftigeren Account des FC Bayern, der stattliche 42,7 Millionen Abonnenten hat.
Die DFL und ihre 36 Profiklubs der 1. und 2. Bundesliga riefen dazu am vergangenen Spieltag, der parallel zur Bundestagswahl stattfand, unter dem Hashtag #DemokraTEAM zur Wahl demokratischer Parteien auf, gegen Rassismus und Ausgrenzung. Vereine wie Schalke 04 oder Darmstadt 98 spielten in Sondertrikots mit entsprechendem Aufdruck.
Uli Hoeneß, der wortgewaltige Schutzpatron des FC Bayern München und irgendwie auch des ganzen deutschen Fußballs, sagte unmissverständlich bei t-online: „Es wird hoffentlich eine völlig neue Ära in der deutschen Politik geben. Wobei ich nie einen Hehl daraus gemacht habe, dass ich dabei auf keinen Fall die AfD meine„, erklärte der 73-Jährige im lesenswerten Interview mit meinem Kollegen Julian Buhl. Zahlreiche weitere Klubs und Vereinsvertreter äußerten sich ähnlich.
Der stets aufrechte, frühere Freiburger Trainer Christian Streich erklärte noch Ende Januar bei einer Podiumsdiskussion: „Nie waren wir in Deutschland so frei wie heute und das müssen wir verteidigen, dafür braucht es Engagement!“ Selbst der bisher – mit Verlaub – nicht als großer politischer Denker aufgefallene Ex-Nationalspieler Max Kruse postete am vergangenen Sonntag ein Video, in dem er zum Wählen aufrief. „Wir waren gerade in unserem Wahllokal. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich wähle“, sagte der immerhin schon 36-Jährige, der aktuell beim Berliner Landesligisten Al-Dersimspor spielt, ganz stolz. Wählen sei „wichtig, einfach wichtig“.

Der Fußball, der sich qua Selbstverständnis allzu gerne als gemeinschaftsstiftende Institution des öffentlichen Lebens produziert, hat seine in Deutschland konkurrenzlose Strahlkraft genutzt, um genau diese Gemeinschaft zu stützen und zu schützen.
Was dabei auffällt, ist eben, dass es auffällt.
Bleibt besonders an die Stars mit ihrer großen Reichweite auf diversen Internetplattformen die Frage: Warum erst jetzt in dieser Vehemenz? Wovor hatten sie Angst? War es die Furcht, auf ungewohntem Terrain schlimmstenfalls zu dilettieren? Schließlich ist nicht jeder Fußballprofi ein rhetorisches Naturtalent wie Thomas Müller, der selbst dann noch informativ, eloquent und unterhaltsam zu antworten vermag, wenn ihm schon Sekunden nach Schlusspfiff ein übereifriger Field-Reporter den Mikrofonpuschel ins Gesicht drückt, während er noch hastig in eine Pferdedecke gewickelt wird.
„Natürlich kann man sagen: Es gibt bei uns heute zu wenig Personen aus dem Sport, die sich einsetzen„, erklärte mir erst unlängst der wunderbare Ewald Lienen im Gespräch. Lienen muss es wissen: Der 71-Jährige war schließlich der erste deutsche Profifußballer, der sich schon zu aktiven Zeiten regelmäßig und lautstark politisch zu Wort gemeldet hat – und das auch heute noch tut. Er ist ein streitbarer, kritischer Geist und Kämpfer für eine in allen Belangen gerechtere, bessere Welt geblieben.

„Das Echo wäre heutzutage ein ganz anderes“, meinte er aber auch und warf einen Blick auf die (un-)sozialen Medien: Personen des öffentlichen Lebens, die sich politisch äußerten, würden „sofort Ziel eines Shitstorms und unablässig attackiert – das muss man erst mal aushalten. Auch deshalb scheuen sich viele vor einem öffentlichen Engagement.“
Einer, der sich wiederholt eben nicht scheute, ist Nationalspieler Leon Goretzka. Der heute 30-Jährige bewies und beweist Rückgrat – und das nicht nur durch ein beeindruckend breites Kreuz auf dem Platz. „Für mich ist es keine Alternative, sondern eine Schande für Deutschland“, machte sich der Spieler des FC Bayern schon während der Corona-Pandemie gegen die AfD stark. „Hasskommentare bringen mich eher dazu, mich noch klarer zu positionieren.“