Am heutigen Dienstag nehmen Angehörige und Wegbegleiter bei einer Trauerfeier Abschied vom früheren Bundesinnenminister Gerhart Baum. Ein Nachruf von Konstantin Kuhle, stellvertretender Fraktionschef der FDP im Bundestag.
Die erste E-Mail von Gerhart Baum bekam ich am 19. September 2014: „Ihr Interview im Stadtanzeiger hat mir gut gefallen. Vielleicht ergibt sich einmal Gelegenheit zu einem Gespräch. Beste Grüße, Ihr Baum.“
Als damaliger Bundesvorsitzender der FDP-Jugendorganisation Junge Liberale (Julis) hatte ich dem „Kölner Stadtanzeiger“ ein Interview gegeben, das Baum offensichtlich zugesagt hatte. Einige Wochen später saß ich in seiner Kölner Wohnung und legte bei einer Flasche Weißwein Rechenschaft ab – über meine Sicht auf Rechtsstaat und Demokratie, über die Chancen und Gefahren der Digitalisierung und über die Lage der FDP. Ich verließ die Wohnung nach mehreren Stunden mit einem Stapel Bücher und ausgedruckter Artikel und Aufsätze, die Baum mir zur Lektüre aufgegeben hatte.
Die Felder des Wirkens von Gerhart Baum reichen vom Einsatz für die Erneuerung der FDP in den Sechzigerjahren über die Zeit als Bundesinnenminister zwischen 1978 und 1982, als er angesichts des linksextremen Terrors der RAF den Charakter der Bundesrepublik als liberaler Rechtsstaat verteidigte, bis hin zu den langen Jahren nach seiner Regierungszeit, in der beharrlich für seine Sicht des politischen Liberalismus eintrat. Als unbarmherziger Kritiker der FDP meldete er sich regelmäßig zu Wort. Aber er wusste auch, dass man den organisierten Liberalismus nur dann nach seiner Vorstellung prägen und beeinflussen kann, wenn man Teil des organisierten Liberalismus ist. Als Abgeordneter und Rechtsanwalt setzte er sich für die Menschenrechte, für die bürgerlichen Freiheitsrechte, für den Umweltschutz sowie für Kunst und Kultur ein.
In jedem dieser Bereiche ist eine eigene Würdigung der Lebensleistung Baums angemessen. Wer sich etwa mit der Verteidigung der Bürgerrechte gegen einen übergriffigen Staat beschäftigt, wird die Ergebnisse seiner Arbeit weiter mit sich tragen. Die von Gerhart Baum und seinen liberalen Mitstreitern erstrittenen Urteile des Bundesverfassungsgerichts, etwa gegen den sogenannten Großen Lauschangriff, oder gegen den Abschuss von Passagierflugzeugen in Notsituationen, sind wichtige Meilensteine des liberalen Rechtsstaats.
Doch für viele Menschen in seinem Umfeld war Gerhart Baum nicht in erster Linie der Bürgerrechtsanwalt oder der frühere Bundesinnenminister – er war vor allem der neugierige und der Welt zugewandte Gesprächspartner, der bis ins hohe Alter vor Tatendrang strotzte. In den wenigen Jahren, in denen ich Gerhart Baum kennen durfte, umgab ihn ein enges Netz aus früheren Weggefährten, Liberalen, Juristen, Journalisten und Kulturschaffenden, mit denen er sich, gemeinsam mit seiner Ehefrau Renate, beinahe täglich austauschte.
Als umtriebiger Redner und Publizist reiste Baum unermüdlich durch das ganze Land und darüber hinaus. Zweimal fuhr ich mit Baum nach Russland – in das Land, aus dem seine Mutter 1917 geflohen war. Im Juni 2016 und im Oktober 2018 nahm ich mit Delegationen junger Liberaler aus Deutschland auf Einladung der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung an Gesprächen Baums mit Journalisten, Oppositionellen und Menschenrechtlern in Moskau und St. Petersburg teil. Wir sprachen mit mutigen Menschen, die die weitere Entwicklung Russlands kommen sahen. Wir besuchten die Große Moskwa-Brücke, auf der 2015 der Oppositionelle Boris Nemzow erschossen worden war. Aber wir fuhren auch mit dem Boot durch die Kanäle St. Petersburgs, spazierten über den Roten Platz und erkundeten die Orte, an denen der Roman „Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow spielt.
Großes Interesse an Russland
Gerhart Baum hat sich zeit seines Lebens mit Russland beschäftigt. Und er machte sich keinerlei Illusionen, was die Entwicklung des Putin-Regimes zu der imperialistischen Macht anbetraf, die Europa mit einem Krieg überziehen würde. Im April 2022 stellten Baum und die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine beim Generalbundesanwalt nach dem Völkerstrafgesetzbuch Strafanzeige gegen Wladimir Putin.
Für viele Menschen in Russland war es schon während unserer Reisen mit Risiken verbunden, die autoritären Tendenzen des Putin-Regimes öffentlich zu kritisieren. Kein Problem war es hingegen, über die Entwicklung der Grundrechte in Deutschland und der Europäischen Union zu sprechen. Wenn Gerhart Baum mit russischen Studierenden über die anlasslose Vorratsdatenspeicherung und die Abhörpraxis des US-amerikanischen Nachrichtendienstes NSA diskutierte, dann standen diese Themen niemals nur für sich. Schnell drehte sich die Diskussion um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit und um die Frage, wie Einschränkungen der Privatsphäre mit den Grund- und Menschenrechten vereinbar sind. Ohne es explizit auszusprechen, eröffneten diese Veranstaltungen den Teilnehmern den Raum für beinharte Regimekritik und Selbstreflexion als Bürgerinnen und Bürger in einer immer brutaleren Diktatur.