Die Weltordnung befindet sich im Umbruch. Historiker Jürgen Kocka erklärt, wie sich die Bundesrepublik von der Republik von Weimar unterscheidet und wie bedrohlich die Vorgänge in den USA sind.
Deutschland wählt einen neuen Bundestag – und das unter dramatischen Vorzeichen. Die USA unter Donald Trump drohen ein unsicherer Partner zu werden, Russland könnte im Angriffskrieg gegen die Ukraine erfolgreich sein, und in Deutschland selbst erstarkt die AfD. Auch wegen letzterer Entwicklung erklingt immer wieder die Warnung vor „Weimarer Zuständen“.
Wie viel „Weimar“ erleben wir aber gerade in unserer Gegenwart? Welche Aufgaben müsste die kommende Bundesregierung dringend in Angriff nehmen? Und welche fundamentalen Auswirkungen hat die gegenwärtige Allianz zwischen Donald Trump und Elon Musk? Diese Fragen beantwortet der Historiker Jürgen Kocka im Gespräch.
t-online: Professor Kocka, Krise auf Krise erschüttert unsere Gegenwart, immer wieder wird vor dem „Gespenst von Weimar“ gewarnt. Erleben wir gerade tatsächlich „Weimarer Verhältnisse“?
Jürgen Kocka: Nein. Heutzutage ist der größte Teil der Eliten für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und das liberale demokratische System, für das es steht. In der Weimarer Republik standen dagegen viele Unternehmer, Kapitalisten und Grundbesitzer, Parteipolitiker und hohe Beamte, Bildungsbürger und Intellektuelle wie auch die Spitzen der Armee in skeptischer Distanz zu Republik und Demokratie. Wir haben heute einen starken systemstabilisierenden Liberalkonservatismus rechts von der Mitte, der damals fehlte. Ein entscheidender Unterschied zu „Weimarer Verhältnissen“!
Damals ging die Angst vor dem Kommunismus um, heute fordert Russland unter Wladimir Putin die liberale Weltordnung heraus, in den USA schleift Donald Trump die Demokratie. Haben wir es nun mit einer Art rechten autoritären Herausforderung zu tun?
Dies ist ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen Weimar und heute. Damals fand der Aufstieg des Rechtsextremismus unter dem Einfluss intensivster Klassenspannungen zwischen Proletariat und Bürgertum statt. Die Demokratiefeindschaft der in Deutschland starken kommunistischen Bewegung hat die Verbreitung des antikommunistischen Nationalsozialismus erheblich gefördert. Die Angst vor der radikalen Linken im Land hat viele Deutsche damals nach rechts rücken lassen. Dies spielt heute kaum eine Rolle. Andererseits ist das heutige Russland ähnlich freiheits- und demokratiefeindlich wie die damalige Sowjetunion, aber ungleich mächtiger als diese. Und die USA entwickeln sich unter Trump gerade zu einem autoritären System, das unsere liberaldemokratische Ordnung infrage stellt, die EU zu schädigen versucht und der rechtsextremen Opposition publikumswirksam den Rücken stärkt. Die liberaldemokratische Substanz der Bundesrepublik muss heute viel stärker gegen außenpolitische Herausforderungen verteidigt werden als damals die Demokratie von Weimar. Wir sind darauf schlecht vorbereitet.
Jürgen Kocka, Jahrgang 1941, gehört zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern und ist unter anderem Träger des Leibniz-Preises. Kocka ist Mitbegründer der „Bielefelder Schule“, die die Historische Sozialforschung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft etabliert hat. Bis zu Kockas Ruhestand 2009 hatte er die Professur für Geschichte der Industriellen Welt an der Freien Universität Berlin inne, zudem war der Historiker lange Jahre Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). 2021 erschien sein Buch „Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland„.
Erleben wir gerade eine Renaissance des Faschismus, wie manche Stimmen warnen?
Jedenfalls erinnert der gegenwärtige Aufstieg des Rechtsextremismus an den Aufstieg des Rechtsextremismus in den 1920er-Jahren. Rechtsextrem sind Ideen, Bewegungen und Aktionen, die sich gegen die Prinzipien der liberalen Demokratie richten, gegen universale Menschenrechte und internationale Solidarität, gegen Rechtsstaatlichkeit und die Legitimität von Vielfalt; die anders als der herkömmliche Konservatismus auf populistische, oft völkische und fast immer nationalistische Weise die Massen ansprechen, zugleich aber anti-elitär und anti-traditional auftreten. Wenn sie erfolgreich sind, führen sie zu autoritären und diktatorischen Politikformen, oder doch zu Mischformen, die nur noch halbdemokratisch sind.
Am Trumpismus in den USA und an der AfD in Deutschland lässt sich das zeigen, auch am gegenwärtigen Aufstieg des Rechtsextremismus in vielen anderen Ländern, trotz vieler Unterschiede im Einzelnen. Dabei ähneln sich die rechtsextremistischen Bewegungen der 1920er- und der 2020er-Jahre, auch weil sie gewisse Ursachen gemeinsam haben.
Im Ersten Weltkrieg, in der Revolution 1918–1920 und mit der Gründung der Weimarer Republik fanden in Deutschland rasche und erfolgreiche Schübe tiefgreifender Demokratisierung statt. Der Aufstieg rechtsextremer, populistischer Bewegungen und vor allem des Nationalsozialismus in den 1920er- und 1930er-Jahren war auch ein Protest dagegen, eine Reaktion auf den Wandel, auf die Herausforderungen und Zumutungen, die für viele mit diesen Demokratisierungsschüben verbunden gewesen waren.
Heute ist die Demokratie in Deutschland durch Jahrzehnte währende Praxis eingeübt.
Die Bundesrepublik hat wie andere Länder der westlichen Welt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts viele Jahrzehnte der Demokratisierung und Liberalisierung wie auch der Pluralisierung und Transnationalisierung hinter sich. Damit waren tiefgreifende Veränderungen des politischen Lebens, der Arbeitsverhältnisse, der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen, des Alltagslebens, der Kultur und der Sprache verbunden. Dazu gehörten die Globalisierung und mit ihr die massenhaften Migrationen. Und wir sind mit dem Menschheitsproblem der Umwelt- und Klimakrise konfrontiert, auf das sich Politik und Gesellschaft in verschiedenen Ländern unterschiedlich einzustellen versuchen. Damit waren und sind einerseits große Chancen, neue Angebote und zu Recht gefeierte Fortschritte, andererseits aber auch tiefe Infragestellungen, Zumutungen und Überforderungen verbunden. Gewinn und Verlust waren und sind zwischen sozialen Gruppen, kulturellen Milieus und Regionen sehr ungleich verteilt.