Sind Kapitalismuskritik und Proteste gegen die Automesse IAA verfassungsfeindlich und ein Grund, nicht zum Lehramt zugelassen zu werden? Nicht per se. Aber wo verläuft die Grenze?
In Bayern könnte der 28-jährigen Klimaaktivistin Lisa Poettinger der Zugang zum Referendariat am Gymnasium verwehrt werden. Das würde bedeuten, dass sie womöglich keine Lehrerin werden kann. Der Grund dafür: In der Vergangenheit hatte sie unter anderem gegen den Braunkohleabbau im nordrhein-westfälischen Lützerath und die Automesse IAA protestiert. Das bayerische Kultusministerium berät derzeit noch über die Entscheidung. Poettinger selbst spricht von einem Berufsverbot und hat angekündigt, sich juristisch zu wehren.
Die Frage, die hier verhandelt wird, lautet: Wo verläuft die Grenze zwischen legitimen Protesten und verfassungsfeindlichen Bestrebungen?
Laut Beamtenstatusgesetz müssen Beamtinnen und Beamte jederzeit gewährleisten, für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten. Das Kultusministerium hält unter anderem die kapitalismuskritische Einstellung Poettingers für nicht vereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Ein Argument der Behörde lautet, dass die Aktivistin die Internationale Automobil-Ausstellung IAA in einem Interview als ein „Symbol für Profitmaximierung auf Kosten von Mensch, Umwelt und Klima“ bezeichnet habe. In einem Bescheid heißt es über die Wortwahl: „‘Profitmaximierung’ ist eine den Begrifflichkeiten der kommunistischen Ideologie zuzuordnende Wendung.“
Poettinger bezeichnet sich selbst als Marxistin – ausdrücklich aber nicht als Kommunistin. Sie sei eine überzeugte Verfechterin des Grundgesetzes und der bayerischen Verfassung. „Ich finde die Analyse richtig, dass Kapitalismus zu Ausbeutung von Menschen und der Natur führt“, zitiert sie der BR, „und auch allgemein zu ungerechten Strukturen, die uns letztendlich, wie wir ja sehen, gegen die Wand fahren.“
Die Lage ist extrem ernst, aber nicht hoffnungslos. Nach diesem Motto erklärt die freie Journalistin Sara Schurmann die großen Zusammenhänge und kleinen Details der Klimakrise, sodass jede und jeder sie verstehen kann.
Etwa in ihrem Buch „Klartext Klima!“ – und jetzt in ihrer Kolumne bei t-online. Für ihre Arbeit wurde sie 2022 vom „Medium Magazin“ zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres gewählt.
Auch, dass Poettinger den in der Klimabewegung gängigen Slogan „System change, not climate change“ (“Systemwandel statt Klimawandel”) verwendet, wird vom Kultusministerium als Aufruf zum politischen Umsturz interpretiert. Der Slogan könne nicht nur als Appell zur Klimaneutralität verstanden werden, sondern als Appell zu einem grundlegenden Systemwechsel. Im bayerischen Verfassungsschutzbericht von 2023 heißt es, die linksextremistische Szene nutze die Sorgen der Klimabewegung vor den Folgen der Erderhitzung, um „gegen das ‘kapitalistische System’ als vermeintliche Ursache des Klimawandels zu hetzen“ und wolle sie mit Slogans wie „System change, not climate change“ politisieren.
Ist Kapitalismuskritik also radikal und eventuell sogar verfassungsfeindlich? Oder notwendig, wenn die Klimakrise eingedämmt werden soll?
Dafür muss ich etwas ausholen: Seit Langem wird diskutiert, ob eine Lösung der Klimakrise im Kapitalismus möglich ist oder nicht. Oft dreht sich die Diskussion um die Frage, ob Wirtschaftswachstum und Emissionen voneinander entkoppelt werden können. Die Antwort darauf ist – zumindest theoretisch – einfach: Ja, können sie. Wenn 100 Prozent des Energiebedarfs durch erneuerbare Energien gedeckt werden. Den Prozess der Entkopplung kann man in diversen Industrieländern wie Deutschland bereits beobachten. Die Wirtschaft wächst und die Emissionen sinken. Jedoch nicht genug. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob eine komplette Entkopplung möglich ist, sondern wie schnell.
Um ihren fairen Anteil zu leisten, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten, müssen viele große Industrienationen bereits in wenigen Jahren klimaneutral sein. Wächst die Wirtschaft weiter, steigt auch die Nachfrage nach Strom. Diese innerhalb der kurzen verbleibenden Zeit mit erneuerbaren Energien zu befriedigen, wird schwierig. Und: Die Menschheit lebt nicht nur in der Klimakrise.
Jahrzehntelang wurde ohne Rücksicht auf die Grenzen des Planeten gelebt und gewirtschaftet. Das ist keine ideologische Analyse, die Auswirkungen werden seit Jahren naturwissenschaftlich gemessen und nachgewiesen. Mehrere planetare Belastungsgrenzen wurden bereits gefährlich weit überschritten. Die Wirtschaft hat die Umwelt verschmutzt, in und von der wir leben, und die Kosten dafür auf die Gemeinschaft und zukünftige Generationen abgewälzt. Sie hat Ressourcen verbraucht, Wälder abgeholzt, Flächen versiegelt, Böden und Wasser verseucht, Tiere und Pflanzen verdrängt und vergiftet und Treibhausgase ausgestoßen. In sozialistischen Staaten ebenso wie in kapitalistischen. Wächst die Wirtschaft, wächst aber auch der Ressourcenverbrauch weiter. Es gibt nicht eine Studie, die darauf hinweist, dass sich beides entkoppeln lässt.