Wie konnte es zu der Bluttat von Aschaffenburg kommen? Diese Frage muss die Bundesregierung nun beantworten. Aber dem Islam-Experten und Psychologen Ahmad Mansour reicht eine Aufarbeitung nicht. Er schlägt Alarm.
Am Mittwochvormittag attackierte ein 28-jähriger Afghane im bayerischen Aschaffenburg eine Kindergartengruppe. Nach bisherigem Ermittlungsstand tötete er einen zweijährigen Jungen und einen Passanten, der sich zwischen den Angreifer und die Kinder warf. Weitere drei Menschen wurden verletzt.
Der Tatverdächtige ist für die Polizei kein Unbekannter. Die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg führte mehrere Verfahren gegen Enamullah O. Die Liste seiner Akte ist lang – von Körperverletzung bis Gewalt gegen Polizeibeamte. Der Extremismusforscher und Psychologe Ahmad Mansour schlägt im Interview mit t-online Alarm und fordert die Politik zum Handeln auf.
t-online: Herr Mansour, nach der Bluttat von Aschaffenburg stellt sich die Frage: Wie kann es passieren, dass ein Mann mit der Vorgeschichte von Enamullah O. dreimal zur psychiatrischen Behandlung eingewiesen wird – und dreimal wieder entlassen wird?
Dafür gibt es drei Gründe. Erstens: das Gesetz. Es ist gesetzlich nicht einfach, jemanden zwangseinzuweisen oder gegen seinen Willen psychiatrisch zu behandeln. Zweitens: die Diagnose. Ich bezweifle, dass die Sozialisierung und die kulturellen Hintergründe genügend berücksichtigt und dementsprechend auch die Gefahr, die von solch einem Patienten ausgeht, richtig eingeschätzt wurden. Drittens: das System. Das Gesundheitssystem ist komplett überfordert. Es ist per se unglaublich schwierig, psychologische oder psychiatrische Behandlung zu bekommen. Hinzu kommen eine eventuelle Sprachbarriere und die Vielfalt der Traumata.
Ahmad Mansour, geboren 1976, ist arabischer Israeli und lebt seit 2004 in Berlin. Er ist Diplom-Psychologe und arbeitet für Projekte gegen Extremismus. Anfang 2018 gründete er Mind Prevention (Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention). Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz sowie den Carl-von-Ossietzky-Preis.
Welche Rolle spielen Traumata bei solchen Gewalttaten?
Ich akzeptiere kein Trauma als Entschuldigung für ein Verbrechen. Natürlich sind manche Flüchtlinge traumatisiert. Aber ein Trauma ist keine Entschuldigung für Gewalt. Auch psychische Labilität ist keine Entschuldigung. Sie führt nicht automatisch zu Gewalt. Wir haben es vielmehr bei solchen Fällen mit einer Kultur, mit Erziehungspraktiken und mit autoritären Strukturen zu tun, die Gewalt fördern.
Als Psychologe ärgert es mich, dass Gewalttaten mit psychischer Labilität gerechtfertigt werden. Menschen, die unter Depressionen leiden oder auch Traumata erlebt haben, werden in der Regel nicht gewalttätig. Das ist viel differenzierter zu betrachten. Die psychische Labilität eines Täters darf nicht zur Ausrede werden, um eine politische Debatte über Migration und die Fähigkeit, bestimmte Leute aus bestimmten Kulturen in unsere Gesellschaft im großen Stil integrieren zu können, zu verweigern. Ich betone: Es geht nicht um eine Verallgemeinerung, und ich rede nicht von Migranten, sondern von Straftätern.
Was löst solch eine Tat in der Gesellschaft aus?
Wir können nicht mehr von einer Einzeltat sprechen. Die Tragweite dieser Tat haben wir noch gar nicht verstanden. Sie verursacht ein Gefühl einer subjektiven Unsicherheit, die man nicht wegwischen darf. Wenn ein Kind auf einem Kita-Ausflug ermordet wird, wenn Kinder in der Schule angegriffen werden, wie etwa in der vergangenen Woche in Berlin, wenn Kinder auf dem Weihnachtsmarkt ermordet werden, muss sich die Politik Fragen stellen. Die Ermordung eines Zweijährigen ist etwas, das die gesamte Gesellschaft massiv erschüttert. Ich wähle drastische Worte, weil man nach einer solchen Tat am nächsten Tag nicht zum Alltag übergehen darf.
Sehen Sie hier ein politisches Versagen?
Absolut. Jetzt kommen wieder all die Sonntagsreden. Aber wo waren all die Politiker die Jahre zuvor? Als Angela Merkel einst erklärte „Wir schaffen das“, sagte sie nicht, wie wir das schaffen. Ich sehe in der Politik eine pathologische Sprachlosigkeit. Sie ist politisch gefährlich, weil dann diejenigen das Sprechen übernehmen, von denen ich nicht will, dass sie Gehör finden. Und sie ist gefährlich, weil sie eine psychologisch gefährliche Hilflosigkeit auslöst. Ich möchte einen Kanzler, der handelt. Und nicht einen, der es leid ist, alle paar Wochen solche Gewalttaten zu sehen, wie es Scholz ausgedrückt hat.
Wo sehen Sie die Lösung?
Wir brauchen eine grundlegende Veränderung der Migrationspolitik. Wir müssen uns fragen: Wie viele Ressourcen brauchen wir, um einen Menschen zu integrieren und ihn zu begleiten – und ihm auch im Fall einer psychischen Labilität helfen zu können. Wenn wir diese Frage jetzt ehrlich beantworten, wird eine Zahl unter 100.000 Menschen pro Jahr die Antwort sein. Illegale Migration muss nicht nur begrenzt, sondern gestoppt werden.