Eine Studie versetzt Deutschland in Aufruhr. Es sprechen kaum noch junge Menschen Dialekt. t-online fragte den Experten.
Wie steht es um unsere Dialekte, fragte jüngst die Sprachlernform Babbel und fand in einer deutschlandweiten Studie heraus, dass kaum noch junge Menschen Dialekt sprechen. Eine traurige, aber ganz natürliche Entwicklung, sagt Sprachwissenschaftler Alexander Werth im Interview mit t-online. Der Dialektexperte erklärt, wo in Deutschland heute noch Mundart gesprochen wird und was die Zukunft für unsere Sprache bereithält.
t-online: Herr Werth, eine aktuelle Umfrage einer Sprachlern-App zeigt, dass in der Gruppe der unter 24-Jährigen nur noch fünf Prozent der Deutschen einen Dialekt sprechen. Überrascht Sie das?
Alexander Werth: Nein, das überrascht mich nicht. Wir verfügen über wissenschaftliche Auswertungen und Umfragen, die im Prinzip genau das Gleiche zeigen. In der Sprachwissenschaft unterscheiden wir dabei aber zwischen der aktiven und der passiven Dialektkompetenz.
Die aktive Kompetenz ist die Fähigkeit, tatsächlich Dialekt sprechen zu können. Passive Kompetenz bedeutet, dass Dialekte verstanden werden. Leider wird die aktive Kompetenz noch viel, viel schneller und viel intensiver abgebaut, als die passive Dialektkompetenz. Klar, wenn ich nirgends mehr den Dialekt höre, weil er nicht gesprochen wird, dann kann ich natürlich auch kein Hörverstehen aufbauen und schulen – bei einer Fremdsprache ist es das Gleiche.
Muss man davon sprechen, dass unsere Dialekte im deutschsprachigen Raum aussterben werden?
Ja, absolut. Dialekte sterben aus. Viele sind eigentlich schon ausgestorben, was wir heute vielerorts hören, sind Regiolekte. Das heißt, Dialekte verändern sich in Richtung Standardsprache. Das ist übrigens von Region zu Region sehr verschieden.
Viele sind eigentlich schon ausgestorben, was wir heute vielerorts hören, sind Regiolekte.
Prof. alexander Werth
Von welchen Regionen sprechen Sie?
Wir haben Regionen in Deutschland, da ist der Dialekt quasi schon weg. Und zwar nicht nur in der jungen Generation, sondern auch in der mittleren Generation. Im Niederdeutschen zum Beispiel ist das sehr stark der Fall. Ich hatte gestern einen Termin in Münster, Westfalen, da wurde praktisch überhaupt kein Dialekt mehr gesprochen. Und wenn er gesprochen wird, dann nur in ganz extremen Nähe-Situationen – also zum Beispiel innerhalb der Familie oder mit dem Großvater. Aber im Alltag ist der Dialekt komplett weg.
Ein Gegenbeispiel ist Niederbayern. Ich lehre an der Universität Passau, hier wird noch sehr stark Dialekt gesprochen, auch in der jüngeren Generation. Ich habe Studierende aus dem Bayerischen Wald, die sind dort komplett sozialisiert, kommen aber nach Passau an die Uni. Im Alltag zu Hause sprechen sie stark Dialekt, hier in Passau wird der Dialekt dann abgestellt und die Studenten wechseln in ein regional gefärbtes Hochdeutsch, der schon besprochene Regiolekt. Also, um es kurz zu machen: Es gibt in Deutschland ein großes Gefälle – vor allem von Norden nach Süden.
Sie kommen aus Hessen, sprechen mit mir aber gerade Hochdeutsch. Können Sie babbeln?
Tatsächlich gar nicht, denn ich habe die typische Biografie der mittleren Generation. Das heißt, dass meine Eltern keine Hessen sind, sondern zum Studium nach Marburg kamen und ich also zu Hause nicht mit dem Dialekt der Gegend aufgewachsen bin. Im Gegenteil: Meine Mutter kommt aus Kiel, wo die Situation so ist, dass immer weniger Menschen das niederdeutsche Platt können. Meine Mutter selbst hat das niederdeutsche Platt von ihren Eltern nie gelernt, weil meine Großeltern davon ausgegangen sind, dass Dialektsprechen Bildungsnachteile und Berufsnachteile mit sich bringt.
Glauben Sie, dass diese Art Scham oder sogar Angst vor Nachteilen für Dialektsprecher auch heute noch besteht?
Es ist definitiv nicht mehr so stark belastet, wie das Mitte des 20. Jahrhunderts der Fall war. Wir nennen das in der Forschung die sogenannte Sprachbarrieren-Debatte. Früher dachte man tatsächlich, dass Kinder, die im Dialekt erzogen werden, schlechter in der Schule sind und Nachteile in der Schule haben, weil sie die Grammatik nicht so gut lernen oder mehr Rechtschreibfehler machen. Heute können wir wissenschaftlich zeigen, dass der Erwerb eines Dialekts sogar kognitive Vorteile hat. Es ist wie mit einer Fremdsprache – die Forschung zeigt, dass es ausschließlich Vorteile bringt, mehrere Sprachen zu beherrschen.