Die AfD erstarkt in Deutschland, rechtsextremes Gedankengut setzt sich in der Mitte von Gesellschaft und Politik fest. Wie das geschehen konnte und was dagegen zu tun ist, erklärt der Forscher Daniel Mullis.
Krise folgt auf Krise, die AfD profitiert von den Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung. Kürzlich feierte sie in Thüringen und Sachsen Triumphe, nun hofft sie auf eine Wiederholung bei der Landtagswahl in Brandenburg. Doch die Gefahr durch die in weiten Teilen rechtsextreme Partei ist nicht nur im Osten groß, sie stellt eine Bedrohung der liberalen Demokratie in ganz Deutschland dar.
Was macht die Mitte der Gesellschaft gerade in Krisenzeiten für rechte Parolen empfänglich? Wie geht die AfD bei der Polarisierung der Gesellschaft vor? Und auf welche Weise lassen sich rechtsextreme Bestrebungen wirkungsvoll eindämmen? Diese Fragen beantwortet Daniel Mullis, Humangeograf und Autor des Buches „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten“ im folgenden Gespräch.
t-online: Herr Mullis, die AfD gewinnt immer mehr Zuspruch, in Thüringen und Sachsen haben die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Landesverbände der Partei große Wahlerfolge gefeiert. Gibt es ein Mittel, um die AfD einzudämmen?
Daniel Mullis: Ehrlichkeit.
Natürlich reicht das nicht, aber es wäre ein Anfang. Wichtig wäre, dass Politik und Gesellschaft einmal innehalten. Nachdem eine rechtsextreme Partei eine Landtagswahl gewonnen hat, darf es kein „Weiter so“ geben. Was passiert, ist aber das Gegenteil. Es ist eine Tatsache, dass die Herausforderungen der Zukunft in den Bereichen Klimawandel, Krieg, Migration groß sind.
Hier müssen Sorgen adressiert werden, aber nicht mit den falschen Versprechen, man könne einen Stoppknopf drücken und es könne alles bleiben, wie es ist. Notwendig wäre eine ehrliche und offene Diskussion über die Zukunft, in der den Menschen zum einen klar wird, dass sie unausweichlich Risiken und Konflikte birgt, aber eben auch Chancen und Schönes. Warum nicht eine positive Utopie anstreben, in der Menschen soziale Sicherheit genießen und sie in der Demokratie Würde und Wirksamkeit erfahren?
Stattdessen empfinden viele Menschen gegenwärtig Verunsicherung und Abstiegsangst, wovon die AfD profitiert.
Die extreme Rechte ist außerordentlich geschickt darin, verbreitete Ängste und Sorgen auf spezifische Konfliktthemen zuzuspitzen. Sie reduziert fast jeden Konflikt auf die Frage der Migration und zunehmend auf die Klimakrise. So sorgt sie für eine Polarisierung. Grundtenor ist stets, dass den Leuten etwas weggenommen werde, was ihnen eigentlich zustehe. So gelingt es ihr, Menschen eine politische Heimat zu bieten.
Daniel Mullis, Jahrgang 1984, ist Humangeograf. Er leitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main das Projekt „Alltägliche politische Subjektivierung und das Erstarken regressiver Politiken“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Im März 2024 erschien sein Buch „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte„.
Ist die AfD wirklich eine politische Heimat oder eher ein Sammelbecken für Zornige?
Tatsächlich glaubt eine wachsende Zahl ihrer Anhänger, dass die Partei ihre Interessen gut vertrete – auch in die Zukunft gerichtet. Sie wird als Partei wahrgenommen, die anders ist als die anderen, die Probleme beim Namen nennt.
Der Erfolg rechtsextremer AfD-Landesverbände wie in Thüringen schreckt aber doch Menschen mit Migrationshintergrund ab. Welche Zukunft soll Ostdeutschland mit seiner zunehmenden Überalterung ohne Einwanderer haben?
Der AfD geht es gar nicht um rationale Antworten. Sie betreibt eine Emotionalisierung der Politik, die letztlich in Form eines identitätspolitischen Kulturkampfs geführt wird: Wir gegen die anderen. Sie verspricht den Menschen, dass das eigene Ungemach gemindert oder gar verschwinden würde, wenn die Gesellschaft homogener deutsch wäre. Sie verspricht eine Gemeinschaft als Ort der Stabilität und Sicherheit, in der es wenig bis gar keine Migration gibt, in der traditionelle Geschlechterrollen und klare gesellschaftliche Hierarchien etabliert sind. Wiederbelebt werden soll eine vergangene Gemeinschaft, um die Unsicherheiten in der Gegenwart aufzulösen.
Das ist doch Wunschdenken.
Das ist ein gewaltiger Trugschluss, ja. Zumal es die ersehnte heile Welt so nie geben wird. Aber die extreme Rechte muss gar keine konstruktiven Lösungen anbieten, zum Erlangen von Macht reicht ihr die Emotionalisierung. Vor dem Hintergrund politischer Konflikte kann die AfD viel besser polarisieren: Je mehr es kracht, desto besser für sie.
Wie stark ist die Erosion demokratischer Grundwerte vorangeschritten? Für Ihr Buch „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten“ sind Sie dieser Frage nachgegangen.
Anhand des Beispiels Migration läßt sich demonstrieren, wie demokratische Kipppunkte überschritten wurden. Im Jahr 2016 kamen aus der AfD Forderungen, an der Grenze „Notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch“ zu machen. Dies sorgte für erheblichen Wirbel und Kritik. 2023 war es dann der CDU-Spitzenpolitiker Jens Spahn, der dafür plädierte, illegale Einwanderung „mit physischer Gewalt“ zu verhindern. Bereits zuvor hatte er die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention infrage gestellt. Für die extreme Rechte ist das ein großer Erfolg: Sie hat den Diskurs verschoben und treibt in der Migrationsfrage den politischen Raum.