In Deutschland werden immer häufiger Polio-Viren im Abwasser nachgewiesen. Was steckt dahinter? t-online fragte den Virologen Alexander Kekulé.
Polio (Kinderlähmung) galt eigentlich dank Impfung als ausgerottete Krankheit. Nun werden die Viren aber in immer mehr Städten nachgewiesen – und zwar im Abwasser. Wie kann das sein? t-online fragte den Virologen Alexander Kekulé.
t-online: Herr Kekulé, wie kommen diese Viren denn in unser Abwasser?
Alexander Kekulé: Die in Deutschland und einer Reihe weiterer EU-Staaten im Abwasser gefundenen Viren stammen von Impfstoffen, die zur Ausrottung der Kinderlähmung eingesetzt wurden. Man verwendete dafür bis vor Kurzem abgeschwächte Erreger, die sich im Darm der Geimpften vermehren, aber keine Erkrankung hervorrufen. Man hat sozusagen Wölfe zu Haushunden umgezüchtet, die ihre Herrchen vor wilden Wölfen schützen.
War das die Schluckimpfung, die es früher in Deutschland gab?
Ja, genau. Man impfte Kinder, indem sie einen Tropfen mit lebenden Viren in einem Zuckerstückchen oder direkt auf die Zunge bekamen. Die abgeschwächten Erreger vermehren sich dann im Darm und werden, genauso wie normale Polioviren, über den Stuhl ausgeschieden. Bei schlechter Hygiene kommt es dadurch zu einer regionalen Verbreitung der Impfviren. Solange die Umgebung des Geimpften ebenfalls geimpft wurde, ist das kein Problem. Wenn jedoch in einer Region kein flächendeckender Impfschutz besteht, zirkulieren die Impfviren über längere Zeit in der Bevölkerung. Dann können sie zu den ursprünglichen, gefährlichen Virusvarianten zurückmutieren – aus dem Haushund ist wieder ein Wolf geworden. Statistisch kommt es dann bei einem von 200 infizierten Kindern zu einer Kinderlähmung.
Prof. Dr. Alexander Kekulé ist Facharzt für Virologie, Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und war Berater der Bundesregierung für Seuchenbekämpfung. Als Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie der Universität Halle ist er zum 30. September 2024 in den regulären Ruhestand gegangen. In der Pandemie wurde er durch seine Talkshow-Auftritte und seinen Podcast beim MDR bekannt.
Das heißt, diese Fälle von Kinderlähmung sind eine Folge der Impfkampagne? Hätte man das nicht verhindern können?
Leider muss man aus heutiger Sicht sagen, dass bei der Ausrottung der Kinderlähmung ein folgenschwerer Fehler gemacht wurde. Bei den natürlichen Polioviren gibt es drei Typen, gegen die man zu Beginn der weltweiten Impfkampagne im Jahr 1988 zunächst gemeinsam immunisiert hat. Diese Kampagne, an der neben der WHO auch die Gates-Foundation, der Rotary Club und andere Organisationen beteiligt waren, war extrem erfolgreich, die Neuerkrankungen sind innerhalb von 25 Jahren um 99,9 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2015 erklärte die WHO dann den Typ 2 des Poliovirus für ausgestorben und nahm kurz darauf die zugehörige Komponente aus den Impfstoffen heraus.
Das heißt, es wurde dann nur noch gegen die Typen 1 und 3 geimpft?
Genau, und dabei hatte man eine Konsequenz nicht richtig eingeschätzt. Denn dieser „Switch“ führte dazu, dass sich von kurz vorher geimpften Personen ausgeschiedene Impfviren vom Typ 2 in einigen Regionen der Erde ungebremst in der jüngeren Bevölkerung ausbreiten konnten, weil die ja nur noch den Zweifach-Impfstoff gegen Typ 1 und 3 bekamen. Daraus entwickelten sich dann die von Impfstoffen abgeleiteten Polioviren, die circulating vaccine-derived polioviruses, die heute für fast alle Fälle von Kinderlähmung verantwortlich sind. Aktuell gibt es 74 gemeldete cVDPV-Ausbrüche in 39 Staaten und wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer. In Afrika ist fast jedes Land südlich der Sahara betroffen.
Ist das auch für uns in Deutschland gefährlich?
Die rückmutierten Polioviren können hierzulande keine größeren Ausbrüche verursachen, weil ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist. Die Älteren haben noch die Schluckimpfung mit dem abgeschwächten Lebendimpfstoff bekommen. Seit 1998 werden nur noch inaktivierte Vakzinen verwendet, die ebenfalls zuverlässig vor Kinderlähmung schützen und nicht zu gefährlichen Varianten rückmutieren können.
Poliomyelitis, auch als Polio oder Kinderlähmung bekannt, ist eine hochansteckende Infektionskrankheit. Das Virus befällt vorwiegend das zentrale Nervensystem und kann zu schweren, bleibenden Lähmungen oder sogar zum Tod führen. Übertragen wird das Virus hauptsächlich durch Schmierinfektion (fäkal-oral). Das Tückische: Die überwiegende Zahl der Infektionen verläuft symptomlos. Dennoch können diese Personen das Virus weitergeben an Personen, für die eine Infektion sogar tödlich enden kann. Bis 1998 wurde in Deutschland die Schluckimpfung angewandt, seitdem wird ein anderer Impfstoff verwendet, und zwar als Spritze.
Woher kommen dann die vielen Polio-Viren in deutschen Kläranlagen?
Dafür gibt es im Prinzip zwei Erklärungen. Die Erreger können von Menschen über den Stuhl ausgeschieden werden, die sich kurz zuvor im Ausland angesteckt haben. Zum anderen könnten die Ansteckungen hier in Deutschland stattgefunden haben. Das Robert Koch-Institut sieht das offenbar entspannt. Es erinnert an die allgemeinen Impfempfehlungen gegen Polio und sieht sonst keinen Handlungsbedarf. Das beurteile ich jedoch anders. Man hat dringend erforderliche Kontrollen versäumt und einiges deutet sogar darauf hin, dass wir bereits unbemerkte Poliovirus-Übertragungen im Land haben.
Wie kommen Sie zu dieser Beurteilung?
Die hierzulande im Abwasser nachgewiesenen Polioviren sind aus dem Typ-2-Impfstoff hervorgegangen, man bezeichnet sie deshalb als cVDPV2 (circulating vaccine-derived polioviruses, type 2). Konkret handelt es sich um eine Untervariante, die zum Virusstamm „NIE-ZAS-1“ gehört, der erstmals 2020 in Nigeria beobachtet wurde und sich seitdem über Westafrika bis nach Algerien am südlichen Mittelmeer ausgebreitet hat. Interessanterweise sind die in verschiedenen europäischen Staaten gefundenen Polioviren eng miteinander verwandt, unterscheiden sich aber deutlich von ihrem afrikanischen Vorgänger.