Wir hetzen von A nach B, jagen von Termin zu Termin, und die To-do-Liste wird immer länger: Wir sind gestresst. Oder doch nicht?

Wie ist Stress eigentlich definiert? Lässt er sich messen? Und ab welchem Stresspegel ist die Gesundheit in Gefahr? t-online hat bei einem Stressexperten nachgefragt.

Stress hat viele Ursachen: Termindruck, familiäre Konflikte, Krankheit oder berufliche Herausforderungen führen uns nicht selten an unsere Grenzen und lassen die Ausschüttung von Stresshormonen auf Hochtouren laufen. Wann die persönliche Stressgrenze erreicht ist, ist bei jedem Menschen anders. Während sich der eine auch mit übervollem Terminkalender noch entspannt fühlt, gerät ein anderer bereits in Stress, wenn sich ein Meeting verschiebt. Von negativem Stress sprechen Experten dann, wenn sich Gefühle von Überforderung einstellen und man zunehmend das Gefühl hat, das Pensum nicht zu schaffen und den Anforderungen nicht mehr gerecht werden zu können.

Stehen wir unter Stress, schüttet der Körper verstärkt Stresshormone aus, darunter Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Auf körperlicher Ebene zeigt sich Stress häufig durch vermehrtes Schwitzen, beschleunigten Herzschlag, schlechten Schlaf und Verspannungen. Auf der psychischen Ebene steht Stress oft mit Gedankenkreisen, Gefühlen von Hilflosigkeit, Kontrollverlust und fehlender Handlungsfähigkeit, aber auch mit dem Verlust von Motivation und Lebensfreude in Zusammenhang. „Anhaltender starker Stress kann den Alltag erheblich belasten und die Lebensqualität einschränken. Chronischer Stress kann sogar psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen verursachen. Oft spüren Betroffene, dass sie komplett überlastet sind. Doch viele ignorieren die Warnzeichen und machen weiter“, sagt Dr. Torsten Grüttert, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefarzt der Privatklinik Duisburg.

Unter Stress sendet der Körper zudem Stress-Signale, die sich messen lassen. So bieten unter anderem Smartwatches und verschiedene Smartphone-Apps eine Stressmessung an. Über die Herzratenvariabilität (engl. heart rate variability), kurz HRV, soll sich Stress frühzeitig erkennen lassen. Die HRV erfasst, einfach gesagt, die einzelnen Herzschläge sowie die Abstände zwischen den Herzschlägen – und auch, wie die Abstände der einzelnen Herzschläge im Laufe der Zeit variieren.

Diese Messung kann Hinweise auf das Stresslevel geben, denn die Herzfrequenz wird durch das vegetative Nervensystem gesteuert. Unter Stress ist das Nervensystem, genauer der Sympathikus, überaktiviert. Stresshormone werden ausgeschüttet. Der Blutdruck steigt an, der Herzschlag beschleunigt sich, die Atmung wird schneller und die HRV sinkt kurzzeitig. Der Parasympathikus wiederum bewirkt, dass sich Herz- und die Atemfrequenz wieder normalisieren. Wird die Ausschüttung von Stresshormonen weniger und kommt der Körper zur Ruhe, steigt die HRV wieder an.

Je niedriger die durchschnittliche Herzratenvariabilität ist, desto weniger ist das vegetative Nervensystem im Gleichgewicht und desto höher ist der Stresspegel des Körpers. „Im medizinischen und psychologischen Bereich sowie im Leistungssport wird die HRV schon länger zur Einschätzung von Stress herangezogen. Diese Messungen sind sehr aufwendig“, sagt Grüttert. „Heimgeräte wie Smartwatches und Smartphone-Apps kommen an diese Qualität nicht heran, doch sie können einen Hinweis auf ein erhöhtes Stresslevel geben und dem Träger bewusst machen: Es ist Zeit, mal wieder zur Ruhe zu kommen.“

Dabei gibt es dem Experten zufolge keinen Idealwert, da jeder Mensch einen individuellen Grundwert hat und die HRV täglichen Schwankungen unterliegt. Grüttert rät, die HRV über einen längeren Zeitraum zu erfassen, um ein Gespür für die individuellen Grundwerte zu bekommen. Idealerweise misst man in einem Zeitraum, in dem sich stressfreie und stressige Phasen halbwegs die Waage halten. Empfehlenswert ist, die Messung zur gleichen Uhrzeit, in der gleichen Körperhaltung und in einem ruhigen Moment vorzunehmen.

Eine weitere Möglichkeit ist, den Stresspegel über eine Blutmessung zu erfassen. Darüber lässt sich die Menge der im Blut zirkulierenden Stresshormone im Labor ermitteln. Auch über den Urin und den Speichel sind solche Messungen möglich. „Diese Form der Stresshormonmessung wird vor allem dann vorgenommen, wenn der Verdacht auf eine hormonelle Erkrankung besteht oder der Verlauf einer bestehenden Erkrankung kontrolliert werden muss, etwa eine Erkrankung der Nebennieren oder der Schilddrüse. Der Arzt interpretiert die ermittelten Werte abhängig vom individuellen Krankheitsbild“, sagt Grüttert. „Für Privatpersonen sind solche Messungen nicht geeignet.“

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