Viele Menschen in Deutschland haben bei den Suchaktionen nach Arian (6) mitgefiebert. Doch der Junge bleibt verschwunden. Wie gehen Eltern damit um? Die „Initiative Vermisste Kinder“ berät und hilft in solchen Fällen.

Der verschwundene Arian ist kein Einzelfall: In Deutschland werden jedes Jahr im Schnitt 15.000 Kinder unter 13 Jahren und 60.000 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren als vermisst gemeldet. Dazu gehören verloren gegangene Kinder ebenso wie aktiv ausgerissene Kinder oder Kindesentziehungen. Die meisten Fälle sind allerdings schneller geklärt als der Fall des 6-jährigen autistischen Jungen, und 99 Prozent der Kinder tauchen wohlbehalten wieder auf. Die Initiative Vermisste Kinder e. V. unterstützt Angehörige bei der Suche, aber auch bei der Verarbeitung des Geschehenen. Der Vorsitzende Lars Bruhns kann berichten, was den Eltern vermisster Kinder hilft – und was nicht.

t-online: Es ist der Albtraum aller Eltern: Der 6-jährige Arian ist verschwunden und kann trotz großer Suchbemühungen nicht gefunden werden. Ist Arian ein außergewöhnlicher Fall?

Lars Bruhns: Arian ist ein Fall, der allein durch die Größe der Suchaktion viel Aufmerksamkeit erregt hat. Deshalb empfinden wir jetzt auch eine Art kollektiver Ohnmacht, dass er bisher nicht gefunden werden konnte. Drohnen, Wärmebildkameras, Hunderte Helfer, und dazu kein Hinweis auf ein Verbrechen – und trotzdem ist das Kind nicht zu finden. Das ist für alle kein gutes Gefühl. Es ist aber nicht der erste Fall dieser Art. Erst vor zwei Jahren war der geistig beeinträchtigte Joey in Niedersachsen acht Tage verschwunden, bevor er wohlbehalten wiedergefunden wurde. Es gibt noch Hoffnung.

Wie beurteilen Sie die Suchbemühungen bisher?

Wir fordern schon seit Jahren, dass es bessere und gezieltere Warnsysteme geben müsste, wenn Kinder verschwinden. In der Regel bleiben sie, wenn kein Verbrechen vorliegt, erst mal im Umfeld. Andere Länder sind da weiter als Deutschland. Wir könnten etwa die bestehenden Systeme des Katastrophenschutzes, Nina, Katwarn und die Handy-Funkzellen-Warnung, auch für die Suche nach vermissten Kindern einsetzen: für die Verbreitung gezielter Informationen in den Funkzellen der Umgebung. Denn am wichtigsten ist, dass alle vor Ort sofort informiert werden.

Zur Person

Lars Bruhns (43) ist der ehrenamtliche Vorsitzende der Initiative Vermisste Kinder. Der Verein unterstützt Eltern vermisster Kinder bei der Suche nach vermissten Kindern und bei der Bewältigung des Erlebten. Zudem betreibt er für Deutschland die europaweit einheitliche Hotline für vermisste Kinder unter der Nummer 116000 (24/7 kostenlos aus allen Netzen erreichbar).

Im Fall von Arian haben die Eltern ihn sehr schnell als vermisst gemeldet. Trotzdem hat es mehrere Tage gedauert, bis von Polizeiseite aus bei den Bauern der Umgebung ankam: Mäht bitte Eure Felder nicht. Darin könnte sich ein Kind verstecken. Die Warnung kam per Katwarn, eben gerade jenem Warnmittel, welches sich geradezu ideal für die unmittelbare Ansprache der Bevölkerung vor Ort in akuten Vermisstenfällen anbietet.

Brauchen wir bessere Maßnahmen für die Fälle vermisster Kinder?

Ja, wünschen wir uns bessere Notfall-Fahrpläne für Vermisstenfälle. Wir brauchen polizeiliche Experten, die auch unabhängig von Arbeitszeiten, etwa auch am Wochenende, helfen können. Die beraten können: Welche Schritte sind als Nächstes nötig? Welche Suchmöglichkeiten bieten sich an – Hundestaffel, Tornados, Menschenketten? Und die Polizisten und Angehörige zum Umgang mit Medien schulen können, damit diese nicht Dinge sagen, die sie später bereuen.

Eine spezialisierte Ermittlungsgruppe der Polizei wurde eine Woche nach Arians Verschwinden eingesetzt. Trotz allem soll dies keine Kritik an der Arbeit der Polizei vor Ort oder in diesem konkreten Fall darstellen – jede und jeder der vor Ort befindlichen Einsatzkräfte leistet aktuell Menschenmögliches. Es bedürfte einer grundsätzlichen Anpassung der polizeilichen Bearbeitung in kritischen Vermisstenfällen, um die oftmals extrem knappen Zeiträume effektiv nutzen zu können.

Wie hart ist es für die Eltern, dass die Suche jetzt eingestellt wird?

Die Eltern von Arian, mit denen wir noch keinen direkten Kontakt haben, scheinen in engem Austausch mit der Polizei zu sein. Das ist wichtig. Die Polizei wird ihnen hoffentlich gut vermitteln, dass die Suche eben nicht endet, wenn die Massensuchaktionen eingestellt werden. Es gibt jetzt ein auf Vermisstenfälle spezialisiertes Ermittlerteam der Polizei, das den Spuren nachgehen wird, die sich in den letzten Tagen ergeben haben. Das ist oft zielgerichteter als Massensuchaktionen,

Trotzdem werden die Eltern das Gefühl von Ohnmacht jetzt vielleicht noch stärker empfinden als zuvor. Wichtig ist, dass sie ein Netzwerk, am besten aus vertrauten Personen, haben, die sich um sie kümmern können. Da ist der eigene Hausarzt oder der eigene kirchliche Seelsorger vielleicht besser geeignet als ein Psychologe, den die Familie jetzt erst kennenlernt. Aber es ist wichtig, dass die Familie psychologische Unterstützung und Hilfe erhält. Das unterschätzen Eltern oft erst und denken, sie bräuchten keine Hilfe. Aber die Verarbeitung solcher Fälle wird umso härter, je schlechter die Betreuung zu Anfang ist.

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