Habe ich die Mail geschrieben? Wo sind die Schlüssel? Erinnerungslücken im Alltag sind nichts Ungewöhnliches. Schuld daran ist häufig eine zu große Informationsflut.

Vergesslichkeit ist in den meisten Fällen die Folge von Stress oder Übermüdung. Manchmal sind aber auch schwerwiegendere Ursachen verantwortlich. Fünf Gründe, warum das Gedächtnis phasenweise streikt.

Viele dürften es kennen: In stressigen Phasen, in denen ein Termin auf den anderen folgt, ist die Vergesslichkeit oft besonders groß. Muss das Gehirn ununterbrochen von einem Sachverhalt zum nächsten springen, funktioniert das Kurzzeitgedächtnis oft nur eingeschränkt. Das Gehirn sortiert oft verstärkt aus: Was ist wichtig, was unwichtig? Die Mail vor zwei Stunden? Nicht so wichtig. Der Schlüssel auf der Anrichte? Aussortiert. Besonders Informationen, die emotional keine größere Bedeutung haben, gehen in stressigen Phasen leicht vergessen.

Für das Gehirn ist wichtig, was emotional berührt – positiv wie negativ. Zwar ist das Gehirn darauf trainiert, viele Informationen auf einmal zu verarbeiten. Doch es arbeitet ökonomisch: Je größer die Fülle ist, desto stärker wird gefiltert und ausgemistet. So behält man die Geburtstage seiner Lieben leicht im Kopf, weiß aber oft schon wenige Stunden später nicht mehr, was man zu Mittag gegessen hat.

„Für das Gehirn ist sowohl akuter als auch anhaltender Stress ein Alarmzustand – besonders negativer Stress, der mit Gefühlen von Überforderung, Hilflosigkeit und Kontrollverlust verbunden ist“, erklärt Dr. Torsten Grüttert, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefarzt der Privatklinik Duisburg. „Dann wird der Körper von Stresshormonen geflutet, darunter Adrenalin und Kortisol. Das macht den Körper reaktionsbereit und fokussiert die Aufmerksamkeit auf das, was unser Gehirn als bedeutsam einstuft. Und das ist meist das, was Emotionalität besitzt. Andere Inhalte gehen in Folge der ‚Stresshormon-Dusche‘ oftmals verloren. Das Kurzzeitgedächtnis funktioniert nur noch eingeschränkt. Das Erinnerungsvermögen wird schwächer.“

Anhaltender starker Stress kann das Gedächtnis sogar längerfristig beeinträchtigen. Ist das Gehirn anhaltend in dem Not-Modus verhaftet – hat es nur ein Ziel: Die Situation zu meistern. Das Gehirn fokussiert sich auf das Überleben – auch wenn von den Stressfaktoren, etwa Terminstress, Streit, Trauer oder Leistungsdruck, keine lebensgefährliche Bedrohung ausgeht. Das ist ein Relikt aus früheren Zeiten.

„Stress führt zu einer hohen Selektion von Informationen. Hält die Belastung dauerhaft an, verankert sich der Stress im Gehirn. Die Nervenzellen verzweigen sich weniger und kommunizieren weniger untereinander. Die Überflutung von Stresshormonen ist Gift für das Gedächtnis. Gehirnstrukturen und Gehirnstoffwechsel verändern sich. Das Gute ist: Die Veränderungen lassen sich rückgängig machen, wenn das Stresslevel abnimmt und sich der Organismus erholt“, sagt Grüttert.

Bei einem emotional extrem belastenden Ereignis kann das Gedächtnis sogar komplett streiken. Betroffene, die ein traumatisierendes Erlebnis – also eine für sie oder andere existenziell bedrohliche Situation – erlebt haben, etwa einen Unfall, den Tod einer geliebten Person, Krieg oder Gewalt, haben häufig Erinnerungslücken an das traumatische Geschehen. Ursache ist eine Überforderung der psychischen Schutzmechanismen. Ohne jede Vorbereitung befindet sich die Person in einer Extremsituation mit intensiven Gefühlen, etwa extremer Angst (nicht zu überleben), Panik, Kontrollverlust, Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit, Sicherheitsverlust, Verzweiflung und Ohnmacht. Ein Trauma ist eine Extrembelastung und kann im Gehirn Spuren hinterlassen.

„Zum einen kann ein Erinnerungsverlust eintreten, weil das Gehirn die einströmenden Informationen nicht verarbeiten kann und von der Flut aus Stresshormonen und emotionalen Einflüssen überfordert ist. Zum anderen, weil Vergessen auch ein Schutzmechanismus darstellen kann, um mit dem Erlebten umzugehen. Es kann bis hin zum kompletten Gedächtnisverlust (Amnesie) kommen“, so der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Doch auch wenn Teile des Erlebten aus dem Gedächtnis gelöscht scheinen: Das Gehirn ist hoch sensibilisiert und kann in Situationen, die an das Geschehnis erinnern, mit starkem Stress reagieren.“ Das können zum Beispiel bestimmte Gerüche, Geräusche, Stimmen und andere Reize sein. Für die betroffene Person kann die Stressreaktion ganz unerwartet geschehen. Oft ist ihr die Verbindung zu dem Trauma nicht bewusst.

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