Tabea Kemme gehört zu den prominentesten Stimmen im deutschen Fußball. Wenige Wochen vor der Frauen-WM trifft t-online sie zum Interview. Eine Bestandsaufnahme.
Vor gut einem Jahr holte Tabea Kemme (31) im t-online-Interview zum Rundumschlag aus. “Raus aus dem DFB”, lautete damals ihre Forderung bezogen auf die Frauen-Bundesliga, die bis heute unter dem Dach des Deutschen Fußball-Bundes steht.
Was hat sich in den vergangenen 10 Monaten getan? Wie nachhaltig war und ist der Hype, der durch die Frauen-EM 2022 in England entstanden ist? Ein ausführliches Gespräch über die Dreiklassengesellschaft in der Liga, Investorinnen im Frauenfußball und den drohenden TV-Blackout zur WM im Sommer.
t-online: Frau Kemme, die Bundesliga biegt auf die Zielgerade ein, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern. Was ist Ihr Meistertipp?
Tabea Kemme: Bei den Männern wünsche ich mir eine Sensation – also nicht den FC Bayern. Es wäre einfach schön für die Liga, mal einen anderen Meister zu sehen. Bei den Frauen habe ich keinerlei Präferenz. Ich freue mich, dass es bis zum Ende so spannend war. Der FC Bayern muss jetzt nur noch den Sack zu machen.
Die Abstände zwischen den Teams in der Frauen-Bundesliga sind sehr groß, zwischen Rang 4 (Hoffenheim) und 5 (Bayer Leverkusen) klafft eine Lücke von satten 16 Punkten. Die Qualitätsunterschiede sind immens. Wie bewerten Sie die Attraktivität der Frauen-Bundesliga?
Es ist keine wettbewerbsfähige Liga. Wir brauchen professionelle Bedingungen auf allen Ebenen – und die sind nach wie vor nicht gegeben. Die Liga muss klare Vorgaben erstellen, und wer die als Klub nicht verfolgt, wird konsequent geahndet. Sonst führt das zu so einer immensen Lücke zwischen Platz 4 und Platz 5. In England sehen wir, dass es funktioniert. Da ist die Liga ausgeglichener und enger. Aktuell gibt es nur Empfehlungen an die Vereine. Die treffen selbst die Entscheidung, ob sie sich bewegen wollen. Und wenn nicht, dann setzen sie es eben nicht um. Das hindert die Weiterentwicklung.
Die Spielerinnen tragen die Konsequenzen
Tabea Kemme über die Montagsspiele in der Frauen-Bundesliga
Mehr Geld durch TV-Einnahmen könnte das grundsätzliche Niveau erhöhen. Der ab September greifende neue Medienvertrag steigert die Erlöse in der Frauen-Bundesliga um 1.600 Prozent auf 5,175 Millionen Euro pro Saison. Er bringt zwar mehr Geld, aber auch Montagsspiele. Fluch und Segen zugleich?
Der neue Vertrag löst die alten Probleme nicht. Wenn eine Spielerin einen Vollzeitjob hat, dann muss sie sich am Montag Urlaub nehmen. An einem Urlaubstag hast du qua Vorgabe keine andere Tätigkeit auszuführen. Im Fall einer Verletzung am Urlaubstag, wer übernimmt dann die Verantwortung? Die Spielerinnen tragen die Konsequenzen dieser Entscheidung. Wenn professionelle Topvereine wie der FC Bayern und Wolfsburg in der Champions League aktiv sind, werden sie außerdem an diesem Montag gar nicht spielen können.
Wie weit hängt die Frauen-Bundesliga den anderen internationalen Ligen nach wie vor hinterher?
Wir haben ein Problem in der Breite der Professionalisierung. Bayern, Wolfsburg, ok. Aber die Lücke zwischen den Vereinen ist zu groß. Siehe Klubs wie Turbine Potsdam und den SC Sand, die jetzt in der 2. Bundesliga spielen. Das Gute ist, dass die Spielerinnen insgesamt mündiger werden, sich trauen, Missstände im Verein anzusprechen, was wiederum für Ängste bei den Klub- und Verbandsverantwortlichen sorgt, unter Druck der Öffentlichkeit zu geraten. Am Ende müssen beide Parteien zusammenkommen.
Mit Turbine Potsdam ist Ihr Ex-Verein und einstiger Riese des Frauenfußballs vergangene Woche abgestiegen. Wie stehen Sie aktuell zum Klub?
Ich bin traurig, weil ich weiß, dass die Möglichkeiten da wären, etwas auf die Beine zu stellen. Strukturell hat sich in den vergangenen Jahren kaum etwas verbessert. Wenn ein junges Mädchen mit zwölf Jahren auf die Sportschule in Potsdam geht, braucht es Verantwortung, der Spielerin einen Weg zu ebnen, dass sie sich zu 100 Prozent entfalten kann. Wie viele Spielerinnen aus Potsdam sind Weltfußballerinnen geworden? Eine Menge. Das ist Jahre her. Der Zustand bei Turbine ist in aller Munde – und der Standort ist derzeit offenkundig weniger attraktiv.