Birgt Bidens Europareise noch einmal eine Chance, die Unterstützung der Ukraine zu stärken, bevor Trump möglicherweise die Wahl gewinnt?

Ich glaube nicht, dass das der Hintergrund der Biden-Reise ist. Unabhängig vom Ausgang der US-Wahl wird es wahrscheinlich kein weiteres Hilfspaket der Amerikaner im Umfang von 60 Milliarden US-Dollar geben. Biden könnte in Europa über die Frage sprechen wollen, wie dieser Krieg zu einem Stillstand kommen könnte. Das ist nicht einfach, weil Putin kein Kriegsende will.

Dieser Krieg wird nicht mit dem Sieg einer Partei enden. Russland wird nicht die komplette Ukraine zu einem Vasallenstaat machen. Für die Ukraine wiederum wird es darum gehen, welche Sicherheitsgarantien Kiew bei möglichen Verhandlungen erhalten kann. Denn es ist vorherzusehen, dass die Ukraine die Souveränität über einen Teil ihres Staatsgebietes nicht zurückerhalten wird.

Russische Soldaten im Donbass: Die Ukraine steht im Krieg mit Russland unter massivem Druck. (Quelle: IMAGO/Sergey Bobylev/imago-images-bilder)

Das hängt von der westlichen Unterstützung ab. Auch bei möglichen Sicherheitsgarantien wären vor allem die Amerikaner gefragt.

Nein. Auch die Europäer werden hier etwas leisten müssen, und das würde nebenbei auch die Dynamik dieses Konfliktes verändern.

Momentan verurteilen einige Länder des Globalen Südens den russischen Angriff auf die Ukraine nicht, weil sie den Ukraine-Krieg für eine Auseinandersetzung der zwei alten großen Imperialisten halten – also zwischen den USA und Russland. In der Sekunde, in der die Europäer bereit wären, auch Garantien für die Sicherheit der Ukraine zu übernehmen, könnte sich diese Sichtweise des Globalen Südens auf den Konflikt ändern. Dann gäbe es die Chance, dass im Falle eines partiellen Gebietsverlustes der Ukraine auch Forderungen an Russland gestellt werden. Russland würde sehr unter Druck geraten, wenn Indien, Südafrika, Lateinamerika oder sogar China ihre bislang neutrale Haltung zumindest teilweise aufgeben würden. Diese Länder leiden ja auch unter dem Krieg, denn sie bekommen weder Weizen noch Düngemittel aus der Ukraine.

Aber müsste das westliche Bündnis die Ukraine nicht vorher stärken, um Putin überhaupt an den Verhandlungstisch zu bekommen?

Der Meinung bin ich absolut. Die USA wollen etwa noch immer der Ukraine nicht erlauben, mit ihren weitreichenden Waffen Ziele im russischen Staatsgebiet anzugreifen. Aber auch Russlands Stärke ist begrenzt, und ich denke nicht, dass wir so ängstlich sein müssen. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Putin will nicht nur die Ukraine, sondern er will dem in seinen Augen dekadenten Westen überall dort entgegentreten, wo es möglich ist. Es gibt Menschen in Deutschland, die die Ukraine dazu auffordern, Teile ihres Staatsgebietes aufzugeben, damit endlich Ruhe einkehrt. Das ist eine zynische Haltung, weil sie Putin dazu einlädt, es an anderen Stellen erneut zu probieren, wenn er seine Armee erneut in eine bessere Verfassung gebracht hat.



Olaf Scholz ist jedenfalls für Überraschungen gut.


Sigmar Gabriel


Die geopolitischen Konflikte beeinflussen auch die politische Debatte in Deutschland. Welche Lehren sollte Ihre Partei mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl aus dem US-Wahlkampf ziehen?

Ich habe den Eindruck, dass die großen außenpolitischen Fragen weniger eine Rolle spielen. Und, dass meine Partei sich vor den schwierigen Fragen eher wegduckt. Sie zieht sich lieber in die sozialdemokratische Wärmestube zurück. Anders sind die aktuellen Beschlüsse der SPD über unrealistische Versprechungen in der Steuerpolitik für mich nicht zu erklären. Wer interessiert sich angesichts von Krieg in Europa, wachsender Aggression Russlands im Cyberbereich gegen Deutschland, einer wirtschaftlichen Rezession und einer damit im Zusammenhang stehenden schleichenden Deindustrialisierung eigentlich für Mini-Steuersenkungen? Jeden Tag streitet die Ampelkoalition über fehlendes Geld, und die SPD kommt daher und verspricht Steuersenkungen. Wer soll das denn glauben?

Sie meinen die Steuerpläne der SPD für den Wahlkampf, die auch vorsehen, die Einkommenssteuer für Reiche zu erhöhen. Ist das für eine sozialdemokratische Partei nicht angemessen: Den Reichen nehmen, allen anderen geben?

Ich habe nichts dagegen, große Einkommen höher zu besteuern. Aber wer den Menschen verspricht, dass man mit einer „mäßigen“ Steuererhöhung für das eine Prozent der „Reichen“ am Ende 95 Prozent der Steuerpflichtigen entlasten kann, der muss bei den Grundrechenarten nicht aufgepasst haben. Das geht rechnerisch nicht auf: 400.000 Steuerpflichtige sollten also 41 Millionen Lohn- und Einkommensteuerzahler entlasten. Da kommt bei einer 10-prozentigen Erhöhung der „Reichensteuer“ ein Betrag von 8 Milliarden Euro raus. Verteilt man den an die 95 Prozent der Steuerpflichtigen, ergibt das eine Entlastung von 55 Cent pro Tag. Das ist doch blanker Unsinn.

Kanzler Olaf Scholz und die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)

Auf welche Themen sollte Ihre Partei stattdessen setzen?

Ich halte die aktuellen Pläne für einen Fluchtversuch vor den wirklich schwierigen politischen Themen: Migration, innere Sicherheit, Energiepolitik, wirtschaftliche Rezession, massiver Qualitätsverlust in unserem Schulsystem oder auch vor den geopolitischen Herausforderungen. Sie können eine Reichensteuer machen, aber dann geben Sie das Geld doch bitte dort aus, wo es am dringendsten benötigt wird. Zum Beispiel in der Bildung. Wir werden jedes Jahr in den internationalen Vergleichen schlechter, jammern über den Fachkräftemangel, machen aber überhaupt nichts dagegen. Hinzu kommt: Die aktuelle Bundesregierung bekommt keinen Haushalt hin und die SPD kommt nun mit Steuersenkungsversprechen daher.

Sie glauben also nicht, dass die SPD mit dieser Strategie im Wahlkampf punkten kann?

Nein. Die Erhöhung des Mindestlohns, die ja auch versprochen wurde, ist allerdings richtig. Nur: Das ersetzt keine mutige Politik in all den anderen genannten Feldern. Aber vielleicht kommt das ja noch. Olaf Scholz ist jedenfalls für Überraschungen gut.

Sie haben in den vergangenen Monaten immer wieder gefordert, dass die Bundesregierung und ihre Partei bei schwierigen Themen besser kommuniziert – etwa im Bereich der Migration. Warum macht Bundeskanzler Olaf Scholz das nicht?

Ich halte ihn für einen klugen Menschen, der bestimmt weiß, was erforderlich ist. Deswegen bin ich mir sicher, dass der Bundeskanzler auch einen Weg finden wird, um den am Wochenende beschlossenen Steuerunsinn meiner SPD nicht zum Gegenstand im Wahlkampf zu machen.

Also halten Sie Olaf Scholz noch für den richtigen Kanzlerkandidaten der SPD?

Wenn jemand Kanzler ist, dann ist er auch der nächste Kanzlerkandidat. Es sei denn, er will nicht mehr. Aber davon gehe ich bei Olaf Scholz nicht aus.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gabriel.

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