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Serpil Unvar hat am 19. Februar 2020 ihren Sohn Ferhat verloren. Ein Rechtsterrorist hat ihn und acht weitere Menschen in Hanau getötet. Fünf Jahre nach der Tat kämpft eine Mutter gegen die Angst.

Ferhat Unvar wurde nur 22 Jahre alt. Oft traf er sich mit Freunden in der „Arena Bar“, einem Lokal im Erdgeschoss eines Wohnhauses in Hanau-Kesselstadt. So auch am Abend des 19. Februar. Im Kiosk, der an die Bar angrenzt, erschießt ein Mann Unvar gegen 22 Uhr. Mit ihm im Kiosk werden Gökhan Gültekin und Mercedes Kierpacz sowie im Bereich der Bar Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović erschossen.

Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven.
Gegen 21.50 Uhr eröffnete er am Hanauer Heumarkt mit einer Schusswaffe das Feuer und tötete Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Sedat Gürbüz. Der 43-jährige Mann floh mit dem Auto nach Hanau-Kesselstadt. Dort erschoss er gegen 22 Uhr Vili Viorel Păun, der ihm im Auto vom Heumarkt aus gefolgt war, auf einem Parkplatz. Wenige Minuten später stürmte er die „Arena Bar & Cafe“. Dort erschoss er Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar im Kiosk. Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović tötete er in der angrenzenden Bar.
Im Anschluss fuhr er zurück in sein Elternhaus, ebenfalls in Hanau-Kesselstadt. Dort tötete er erst seine Mutter, dann sich selbst. Weitere Details zum Anschlag lesen Sie hier.

Über die Tat kann Serpil Unvar auch nach fünf Jahren nicht sprechen. Zu sehr würde sie sich wieder in die Situation hineinbegeben, sagt sie. Zu sehr würde sie wieder damit konfrontiert, dass ein Rassist ihren Sohn Ferhat in Hanau getötet hat. Trotzdem spricht sie mit t-online darüber, wie es ist, ein Kind bei einem Anschlag zu verlieren, und über die Frage: Wovor haben Sie Angst, Frau Unvar?

Serpil Unvar: „Seit dem 19. Februar habe ich keine Angst mehr um mich selbst. Ein Privatleben gibt es für mich nicht mehr. Ich lebe mein Leben jetzt für andere. Obwohl ich nie allein bin, junge Menschen mir Kraft und Unterstützung geben, bin ich auch sehr müde. Manchmal weiß ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ferhat hat mit seinem Leben bezahlt. Er ist nicht mehr da, deshalb habe ich keine andere Möglichkeit, als weiterzumachen. Ich habe den größten Schmerz erlebt. Der Schmerz wird nie weggehen. Mein Kind ist ein Teil von mir, und dieser Teil ist nicht mehr da. Wovor soll ich noch Angst haben?

Früher hatte ich Angst vor Männern. Ich weiß, wie es ist, von einem Mann bedroht zu werden. Ich weiß, was es heißt, sich als Frau von einem Mann zu trennen. Wir werden bedroht und begeben uns in Lebensgefahr. Viele Frauen können sich nicht scheiden lassen, weil sie nicht ausreichend Unterstützung erhalten. Sie müssen weiter in Gefahr leben. Ich selbst habe das 19 Jahre lang erlebt. Das war nicht leicht. Ich hatte keine Angst vor der Scheidung, sondern vor dem Danach. Für meine Scheidung musste ich den Kontakt zu Freunden und Familie abbrechen. Sonst hätte ich es nicht geschafft. Nicht jede Frau kann das schaffen. Das ist in Deutschland nicht anders als in der Türkei. Wir werden nicht ernst genommen, bis wir tot sind. Aktuelle Gesetze schützen uns nicht, das zeigt die hohe Anzahl von Femiziden.

Serpil Unvar: Nach dem Anschlag hat sie die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ gegründet. (Quelle: IMAGO/Eventpress Knowles/imago)

Heute habe ich zwar um mich selbst keine Angst mehr. Aber ich habe Angst um meine Tochter, weil ich weiß, wie es ist, ein Kind zu verlieren. Es ist nicht immer ein Rechtsextremist, der unsere Kinder tötet, aber es ist fast immer ein Mann.

Ferhat hat gesagt: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Das Schlimmste am Tod ist, dass Menschen denken, dass wir sie vergessen. Ich werde das Vergessen nicht zulassen. Dafür kämpfen wir.

Wir vergessen, weil wir uns nicht ständig an schlimme Erlebnisse erinnern können. Aber das macht es oft noch schlimmer. Ich kann vor dem Schmerz und vor den Erinnerungen nicht weglaufen. Egal, wohin ich gehe, sie kommen mit mir. Andere schauen weg und vergessen, weil sie denken, die Probleme betreffen sie nicht. Es fehlt uns an gesellschaftlichem Zusammenhalt, und das macht mir Angst.

Trotzdem glaube ich an das Gute in den Menschen. Als der Vater des Täters vor meiner Haustür stand, hielt ich ihn für einen harmlosen alten Mann. Ich habe nett mit ihm geredet, ich wusste nicht, wer er ist. Erst später merkte ich, wozu er fähig war. Er ist Mittäter. Er möchte an unserem Leben teilhaben. Das war keine Angst oder Todesangst, die ich vor ihm hatte. Es war psychischer Terror. Er hat uns alle kaputt gemacht. Und die Spuren davon bleiben. Nicht eine Sekunde habe ich aber daran gedacht, aus Hanau wegzuziehen. Hier in der Wohnung erinnert mich alles an Ferhat. Es ist alles noch wie früher. Sein Zimmer, seine Klamotten. Ferhat lebt weiter mit mir.

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