Das Ziel besteht nach meiner Einschätzung nicht darin, mithilfe von Stefan Raab neue Zielgruppen zu erreichen. Vielmehr sollen die bestehenden Zuschauenden dadurch gehalten oder vom traditionellen Fernsehen zum Streamingdienst gelockt werden.

Welche Zielgruppe steht dabei im Zentrum?

Die heute 30- bis 40-jährigen Menschen bilden die letzte Generation, die ohne Internet, Streamingdienste oder YouTube aufgewachsen ist. In deren Sozialisation und in deren Kindheit hat das Fernsehen noch eine zentrale Rolle gespielt. Es ist überall zu beobachten, dass diese letzte Fernseh-Generation mit aller Kraft beim Fernsehen gehalten werden soll.

Das heißt: Diese Generation soll Raab nun für RTL an eine Streamingwelt heranführen?

Diese Generation ist mit Stefan Raab aufgewachsen. Als sie Jugendliche waren, begleitete er sie bei Viva. Dann folgte der Wechsel zum erwachseneren ProSieben. Mit Stefan Raab sind viele nostalgische Gefühle und romantisierte Erinnerungen an die eigene Jugend und Kindheit verbunden, die durch seine Rückkehr gezielt reaktiviert werden sollen. Deswegen erfolgte sein Comeback im Rahmen der Re-Inszenierung eines alten Events (dem dritten Boxkampf gegen Regina Halmich). Deswegen bestand die erste Hälfte der zugehörigen Übertragung nur aus Rückblicken. Und deswegen setzt sich seine neue Show „Du gewinnst hier nicht die Million“ ausschließlich aus kopierten Versatzstücken seiner früheren Formate „TV total“ und „Schlag den Raab“ zusammen.

Also das, was die Kritik einhellig moniert, diese Kreativlosigkeit: Sie ist ein bewusst gewähltes Stilmittel?

Ich denke schon. Schauen Sie: Bühnenbild, Personal, Musik, Erzählweise der Einspieler, sogar seine Klamotten. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich Raab jeder Veränderung widersetzt – die Verweigerung einer Weiterentwicklung geradezu zelebriert. All die Krisen der vergangenen Jahre, die Herausforderungen unserer Zeit, all die Debatten um Sensibilität für Minderheiten, Geschlechter, Identitäten, Lebensweisen, kulturelle Aneignungen, systemischen Rassismus oder um eine heterogene und achtsame Gesellschaft, all das spielt bei ihm keine Rolle. In seiner Welt ist es eben witzig und zulässig, sich als Mann über die blauen Flecken einer Frau zu belustigen, die er ihr selbst verpasst hat.

Das passt zur Tonalität der Gegenwart: einer Zeit, die von „Früher war alles besser“-Rufen, AfD-Sprech und konservativen Werten geprägt ist. Die sich einer Öffnung verschließt und eine zu große „Wokeness“ beklagt …

Raabs Rückkehr passt perfekt in dieses derzeit festzustellende gesamtgesellschaftliche Klima der Rückgewandtheit. Angesichts der anhaltenden Krisen, der großen Herausforderungen und Veränderungen im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft ist bei vielen Menschen ein Konservatismus zu beobachten. Ein Wunsch nach Vereinfachung, eine Ablehnung von Wandel oder Weiterentwicklung, ein Streben nach „so wie früher“. Das drückt sich nicht zuletzt in ihrem Wahlverhalten aus. Diese Sehnsucht nach Beständigkeit bedient Raab in bemerkenswerter Weise. Er macht exakt dort weiter, wo er vor knapp einer Dekade aufgehört hat. Als habe es die vergangenen zehn Jahre und ihre Errungenschaften oder (Weiter-)Entwicklungen nicht gegeben.

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