Die finanzielle Lage der gesetzlichen Pflegeversicherung ist dramatischer als bislang öffentlich bekannt. Aber warum? Und wer ist überhaupt schuld an der Misere?

Die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung könnten im kommenden Jahr stärker steigen als bisher befürchtet. Grund ist unter anderem die schlechte Finanzsituation der Pflegeversicherung. Zwar ist noch nichts entschieden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte am Montag in Berlin aber eine „große Reform“ an, die in wenigen Wochen vorgestellt werden solle. Es gehe dabei um die Finanzierung, etwa um die Beiträge und die Eigenbeteiligung in der stationären Pflege.

Aber warum ist die Situation der Pflegeversicherung in Deutschland so prekär? Wer hat Schuld daran? Und wie kann man die Probleme bereinigen? t-online beantwortet die wichtigsten Fragen.

Weil die Zahl der Menschen, die Pflege in Anspruch nehmen, seit Jahren steigt. Der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg erklärt t-online, dass die Gründe dafür zum einen demografischer Natur seien. Ursprünglich habe man gedacht, die Zahl der Pflegefälle im Vergleich zur Einführung im Jahr 1995 würde sich bis heute verdoppeln oder verdreifachen. „Damals wurde sich allerdings verkalkuliert“, sagt Raffelhüschen.

„Die Erfinder des Ganzen haben nicht damit gerechnet, dass wir alle, die auch nur im Ansatz dement sind oder bei kleinen Alltagstätigkeiten Hilfe benötigen, auch noch mit unter den Schirm der Pflegeversicherung packen“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler.

Schuld an der Situation sei allerdings nicht nur der demografische Wandel in Deutschland, sondern auch die Politik. Durch die mehrfachen Umformulierungen der Pflegestufe sei die Zahl der Menschen, die Pflege in Anspruch nehmen, noch einmal gestiegen, erklärt Raffelhüschen. „Das heißt, der demografische Verdopplungsprozess wurde durch politische Geschenke nochmals verdoppelt.“ Letztlich hat sich der Wert seit 1995 also vervierfacht.

Für Raffelhüschen sind die Leidtragenden ganz klar: „Die jungen Menschen werden diejenigen sein, die letzten Endes in die Röhre gucken.“ Schlimm daran finde er, dass der Kollaps der Pflegeversicherung schon bei ihrer Einführung 1995 vorhergesagt worden sei. „Wir als Wissenschaftler haben von Anfang an gewarnt, dieses Schneeballsystem zulasten künftiger Generationen überhaupt zu starten“, sagt Raffelhüschen. Schließlich breite sich das System auf immer mehr Menschen aus, aber es gebe weniger aktuelle Beitragszahler.

Die Generation der heute etwa 30-Jährigen habe noch nicht vollends begriffen, dass die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland vor dem Kollaps stünden, führt der Wirtschaftswissenschaftler weiter aus. „Die Babyboomer sind zahlenmäßig überlegen. Das zweite Problem: Sie sind ziemlich langlebig. Hätten wir die Sterbetafeln der Vergangenheit, also der Generation der Großeltern der heute etwa 30-Jährigen, würden wir das Problem etwas ruhiger betrachten.“ Denn in dem Szenario wären weniger Menschen für eine lange Zeit pflegebedürftig. Dementsprechend weniger belastet wäre die Pflegeversicherung.

Es brauche nun dringende Reformen, um die deutschen Sozialsysteme zu retten, so Raffelhüschen: „Das alles ist eine angekündigte Katastrophe. Und das Schlimmste daran ist: Es sieht nicht danach aus, als hätte jemand den Mut, das meiner Generation so zu sagen“, führt der 67-Jährige weiter aus.

Das Geld könne der Pflegeversicherung gar nicht ausgehen, meint Raffelhüschen. „Was passiert, ist, dass Leistungen gekürzt oder die Beiträge erhöht werden.“ Allerdings gebe es in der derzeitigen Politik das sogenannte Leitungsprimat. „Sie merken es ja nicht nur an der Diskussion um die Pflegeversicherung, sondern auch in jener um die Rente“, erklärt der Wissenschaftler. „Weder Arbeitsminister Hubertus Heil noch Karl Lauterbach wollen die Leistungen aus Angst um ihre Wählerstimmen einschränken, sondern nur deren Preise erhöhen.“

Daraus ergebe sich in der Diskussion über Rente und Pflegeversicherung eine völlige Umkehr des Verursacherprinzips: „Wir halten an den Leistungen fest und sagen, die jungen Beitragszahler sind jetzt für die älteren verantwortlich“, führt der Wirtschaftswissenschaftler weiter aus.

Statt der Leistungen müsste das Preisniveau der Pflegeversicherung gehalten werden, erklärt Raffelhüschen. „Wenn wir die Beiträge konstant halten, aber die Leistungen entsprechend dem demografischen Prozess runterfahren, dann haben wir eine generationengerechte Lösung.“

Der Wirtschaftswissenschaftler erklärt, die Generation der Babyboomer sei eine Gefahr für die deutschen Sozialsysteme. „Die meisten in meinem Alter denken, sie hätten ein Problem. Das ist völliger Unfug – denn sie sind das Problem. Und wir, die das Problem sind, schieben die Last auf die Schultern derjenigen, die unsere Kinder sind und dafür wirklich nichts können.“

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