Irgendwann stirbt die Menschheit aus. Dann schlägt die Stunde für ein bisher unterschätztes Wesen – glaubt zumindest ein renommierter Evolutionsbiologe.
Die Gefahren sind vielfältig. Eine Pandemie bringt Tod und Verderben, ein Atomkrieg zerstört die Zivilisation, eine universelle Künstliche Intelligenz richtet sich gegen ihre Erfinder oder die Klimakrise wird unbeherrschbar. So oder so – eines Tages wird die Herrschaft der Menschen über den Planeten Erde enden, davon ist der britische Evolutionsbiologe Tim Coulson überzeugt.
Die Frage lautet ihm zufolge also nicht, ob die Menschheit den Weg der Dinosaurier beschreitet, sondern bloß wann: „Das Aussterben ist das Schicksal aller Arten, einschließlich des Menschen“, erklärte der Forscher jüngst einer erstaunten Öffentlichkeit.
Dann sei der Weg frei für Neues. Früher oder später werde eine andere Spezies die Kontrolle auf der Erde übernehmen, glaubt Coulson, der gerade das Buch „The Universal History of Us“ veröffentlicht hat und dieses in diversen Interviews bewirbt. Platz für Spekulationen lasse eigentlich nur die Frage, welche Art die Nische am erfolgreichsten füllen kann, die durch die Abwesenheit der Menschheit entsteht.
Die Antwort des Oxford-Professors ist überraschend: Auf Rang eins der heißesten Kandidaten für das Erbe der Schöpfungskrone sieht er nicht etwa Menschenaffen, außerordentlich intelligente Rabenvögel oder kluge Delfine – sondern Kraken (wissenschaftlicher Name: Octopoda).
Die nächsten Verwandten des Menschen, also die Gattungen Pan (Schimpansen und Bonobos), Gorilla und Pongo (Orang-Utans), scheiden Coulson zufolge wegen ihrer großen Ähnlichkeit zum Homo sapiens aus. Was auch immer die Menschheit tötet, könnte auch den Hominiden gefährlich werden, meint der Biologe: Geht das Ökosystem zugrunde, das im Augenblick noch das Gedeihen des Menschen sichert, sind auch die Menschenaffen bedroht.
Vögel wie Krähen, Raben oder Papageien wiederum seien zwar bemerkenswert intelligent und könnten gemeinsame Nistplätze bauen, was langfristige Gemeinschaftsbindungen und somit Kulturen ermögliche – für den Aufbau einer vielschichtigen Zivilisation fehle es ihnen aber an den erforderlichen feinmotorischen Fähigkeiten. Sprich: Ohne ein Körperteil, das den menschlichen Händen mit ihren gegengreifenden Daumen entspricht, werden Vögel wohl kaum ausgefeilte Maschinen schaffen und bedienen können.
Ganz im Gegenteil zu den Kraken: Die wirbellosen Tiere können ihre acht Arme erstaunlich flexibel einsetzen, sie in nahezu alle Richtungen verdrehen und auch die zahlreichen Saugnäpfe daran verformen und unabhängig voneinander einsetzen. Das ermöglicht ihnen nicht nur, Muscheln zu öffnen, sie können auch Deckel von Gläsern abschrauben oder das Filtersystem eines Aquariums auseinandernehmen.
Gleichzeitig sind die Oktopus-Saugnäpfe hochsensibel. Chemorezeptoren erlauben es den Tieren, mit ihren Tentakeln nicht bloß zu tasten, sie können damit auch schmecken. Das spezielle Nervensystem der Kraken sorgt zudem für eine Informationsverarbeitung direkt vor Ort, was Entscheidungen ohne Umweg und somit in Hochgeschwindigkeit bedeutet.
Anders als beim Menschen muss die Information nicht erst über Nervenbahnen zu einem zentralen Gehirn geschickt und dort bewertet werden. Neben dem Hauptgehirn, das bei Kraken wie ein Ring um die Speiseröhre liegt, haben die Tintenfische auch noch für jeden einzelnen ihrer acht Arme je ein eigenes neuronales Rechenzentrum. Das Gehirn ist also praktisch im gesamten Körper verteilt.
Faszinierend komplex ist auch das Denk- und Vorstellungsvermögen der Tiere. Sie scheinen sogar wie Menschen zu träumen und wechseln im Schlaf etwa einmal pro Stunde für eine Minute aus einer ruhigen in eine aktive Phase. Forscher ziehen Parallelen zum sogenannten REM-Schlaf des Menschen und halten es für möglich, dass Oktopusse dann Geschehnisse aus dem Wachzustand noch einmal erleben und verarbeiten.