35 Jahre Mauerfall

Ostbeauftragter: „Wir sind enger verwoben, als es scheint“

Aktualisiert am 25.09.2024 – 14:21 UhrLesedauer: 4 Min.

Der Ostbeauftragte Carsten Schneider sieht auch Positives im Ost-West-Verhältnis. (Archivbild) (Quelle: Jens Büttner/dpa/dpa-bilder)

Vor dem Tag der Deutschen Einheit kommt der Jahresbericht zum Stand der Dinge. Carsten Schneider versucht sich an einer positiven Botschaft – und bekommt prompt Kontra.

Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall bleibt der deutsch-deutsche Beziehungsstatus: kompliziert. Beim Einkommen, beim Vermögen, bei den Wahlergebnissen herrschen bis heute in Deutschland große Unterschiede zwischen Ost und West. Dazu gehören Groll und Missverständnisse. Doch liefert der neue Jahresbericht des Ostbeauftragten Carsten Schneider (SPD) auch eine positive Erkenntnis: Bei den großen Linien, wie die Gesellschaft aussehen soll, sind sich die Menschen sehr einig. Und viele Ansichten gleichen sich offenbar an.

„Beide Landesteile sind längst viel enger miteinander verwoben, als es manchmal scheint“, schreibt Schneider im Bericht. Die Unterschiede gebe es und auch das Gefühl vieler Ostdeutscher, Bürger zweiter Klasse zu sein. Aber es sei nicht mehr so, dass Westdeutschland Blaupause für den Osten sei, das Gesamtbild sei differenziert.

Im Interview der Deutschen Presse-Agentur formulierte Schneider es so: „Wir sind ein Land. Wir sind unterschiedlich kulturell geprägt, aber die jetzigen Generationen wachsen in einem Europa auf und sind durch die neuen Medien auch vollkommen miteinander vernetzt“. Das ermutige ihn, sagte der SPD-Politiker.

Schneiders Bericht „Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen“ enthält wieder etliche Gastbeiträge, so etwa vom früheren polnischen Präsidenten Lech Walesa, dem Wirtschaftsexperten Michael Hüther oder der Schriftstellerin Anne Rabe. Er präsentiert aber auch neue Erkenntnisse aus dem Deutschland-Monitor, einer Umfrage mit knapp 4.000 Teilnehmern in Ost- und Westdeutschland vom Frühjahr.

Demnach sind neun von zehn Befragten in Ost und West für eine Gesellschaft mit gleichberechtigten Geschlechtern, mit gleichen Chancen auf Entfaltung der Persönlichkeit, mit einem friedlichen Zusammenleben der Religionen, einem „gelebten sozialen Miteinander“ und sozialer Gerechtigkeit – all diese Fragen erhielten einheitlich um die 90 Prozent Zustimmung. Hinter das „Leistungsprinzip“ stellten sich 81 Prozent.

Eine knappere Mehrheit bundesweit unterstützt die Ziele, in einer „klimaneutralen Gesellschaft“ zu leben (57 Prozent) oder in einer Gesellschaft, „in der Zuwanderung als Chance begriffen wird“ (56 Prozent). Und diese Ziele werden dem Bericht zufolge in Westdeutschland stärker unterstützt als in Ostdeutschland.

Allerdings heißt es auch: „Diese Ost-West-Unterschiede zeigen sich jedoch nur bei jenen Personen, die vor 1972 in der ehemaligen DDR beziehungsweise in Westdeutschland geboren und sozialisiert wurden. Bei Menschen, die ab 1972 geboren sind und somit überwiegend im wiedervereinigten Deutschland sozialisiert wurden, gibt es hinsichtlich der bevorzugten Gesellschaft kaum Unterschiede zwischen Ost und West.“

Wirklich? Wie erklärt sich dann der Eindruck besonderer Unzufriedenheit vieler Menschen im Osten mit der Wirklichkeit der Demokratie in Deutschland, mit Politikern und generell mit „denen da oben“? Wie erklärt sich, dass laut Deutschland-Monitor „populistische Einstellungen“ mit 30 Prozent der Befragten in Ostdeutschland viel stärker verbreitet sind als in Westdeutschland (20 Prozent)? Sind die großen, luftigen Fragen nach dem „Wie wollen wir leben“ relevant – oder nicht doch eher der erlebte Alltag?

Es gebe „noch signifikante Ungerechtigkeiten“, sagte die junge ostdeutsche Influencerin Lilly Blaudszun im Deutschlandfunk. Dazu zählte sie, dass Vollzeitbeschäftigte im Osten statistisch im Schnitt gut 800 Euro weniger im Monat verdienten als Westdeutsche. Oder dass 90 Prozent des Wohneigentums in Leipzig Westdeutschen gehörten. „Ich glaube, dass da eben ein ganz großer Faktor liegt, warum Menschen auch unzufrieden sind und Menschen sich auch von den demokratischen Parteien nicht gesehen fühlen.“

Statt der etablierten Parteien wählten viele Menschen zuletzt in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD – ein Befund, den Schneider „erschreckend, ernüchternd und auch alarmierend“ findet, wie er der dpa sagte. Dass die Zustimmung für die AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenburg noch höher ausfiel als in westlichen Bundesländern, sei zum Teil mit den harten Brüchen für viele Ostdeutsche in den vergangenen 35 Jahren zu erklären. „Aber alles fußt letztendlich auf einer politischen Entscheidung der Bevölkerung, für eine rechtsextremistische Partei zu stimmen, die mich jedenfalls alarmiert“, sagte der Thüringer.

Der Ostbeauftragte kritisierte politische „Polarisierungsunternehmer“ und betonte: „Ich halte nichts davon, den Ostdeutschen einzureden, sie seien Opfer, im Gegenteil. Sie sind diejenigen, die sich selbst ermächtigt haben in den letzten 35 Jahren, aus dem, was wirtschaftlich und von der Substanz der DDR noch übrig war, was gebaut haben.“

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