Als die DDR unterging, verließ sie die Wissenschaft und ging in die Politik. Sie lernte von den Männern, die sie beiseite drängte. In ihren Memoiren erzählt Angela Merkel teils anrührend, über weite Strecken nüchtern ihr Leben. Doch etwas fehlt.

Warum wechselt ein Mensch aus einem sicheren, interessanten Beruf in die Politik, die eine Schlangengrube sein kann? Oft fallen bei der Antwort ziegelsteinschwere Großwörter wie Berufung und Gemeinwohl, früher kam Dienen hinzu – so beschreiben gelegentlich Männer ihre Anfänge, die sie zu Höherem führten, woran sie sich gerührt in ihren Memoiren erinnern. Auch Margaret Thatcher, die allererste Regierungschefin eines großen Landes, gehört in diese Reihe.

Angela Merkel ist zu sehr Protestantin, um sich überlebensgroß erscheinen zu lassen. Bei ihr waren es Neugier und eine maßvolle Abenteuerlust, so will sie verstanden werden. Wo das Neue mit solcher Wucht über ihr Land hereinbrach, beschloss sie, dort dabei zu sein, wo Geschichte entstand, chaotisch, wild und unberechenbar. Also fuhr sie nicht länger morgens um 6.30 Uhr mit der S-Bahn nach Adlershof in das Institut für Physikalische Chemie.

Sie ließ die Wissenschaft und ihr monotones Leben hinter sich. Sie war 35 Jahre alt, nicht blutjung, aber jung genug für diese gravierende Veränderung und dabei charakterlich gefestigt. Falls sie nicht weit käme, dann blieb ja die Rückkehr an ein Institut, das sich mit Quantenchemie befasst. Dr. Angela Merkel ging also ein überschaubares Risiko ein.

Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der „Zeit“ und im „Spiegel“, war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.

Ihre erste Station war der „Demokratische Aufbruch“, den der Pfarrer Rainer Eppelmann mit gründete. Angela Merkel ging Ende November in die Parteizentrale und fragte: „Kann ich irgendwie helfen?“ Konnte sie. Ab dem 23. Januar 1990 war sie Pressesprecherin und damit Anlaufstelle für Journalisten, die aus dem Westen in die sterbende DDR eilten.

Ich habe sie damals kennengelernt, eine junge Frau mit großen, wachen Augen, die mich mit mildem Spott musterte. Sie beantwortete Fragen präzise. Ihre Stimme war hell; sie schraubte sie gezielt herunter, als es bergauf ging. Kein Wort zu viel verließ ihren Mund, an dem sich lange ablesen ließ, wie ihr zumute war, bis sie auch dieses verräterische Signal abstellte. Nicht im Entferntesten kam mir damals der Gedanke, sie könnte mich irgendwann regieren.

Einmal im Jahr stand Theaterbesuch an

In ihren Memoiren, die heute erscheinen, schildert sie ihren Weg aus dem Osten in den Westen mal heiter und eindringlich, mal sachlich und kühl. Geradezu anrührend sind die Erzählungen über ihre Kindheit, die sie glücklich nennt. Die Mutter: ihr Anker. Der Vater: eine nicht ganz nahe Autorität. Ihr Zimmer mit Gaubenfenster im Dachgeschoss war ihre feste Burg. Geheizt wurde mit Kachelöfen. Einmal im Jahr stand Theaterbesuch an.

Vater Horst Kasner war Theologe und leitete das Pastoralkolleg im Templiner Waldhof. Dort trafen sich maßvoll kritische Geister und Sinnsuchende, die es in der engen DDR schwer hatten. Freunde kamen und gingen. Ein geselliges Haus. Für Abwechslung war gesorgt, was der ältesten Tochter behagte. Sie schreibt, ihr Wesenszug sei Unbekümmertheit gewesen. Von ihrem Vater lernte sie, wie man angepasst und zugleich unangepasst sein konnte.

Angela Merkel und Rainer Eppelmann: Zehn Jahre nachdem sie für den „Demokratischen Aufbruch“ als Pressesprecherin angefangen hatte, übernahm sie den Parteivorsitz der CDU. (Quelle: imago-images-bilder)

Auch später waren es Männer der Kirche, die zu ihren Lotsen wurden. Als der „Demokratische Aufbruch“ in der CDU aufging, empfahl Rainer Eppelmann sie weiter an Lothar de Maizière, der ein engagierter Christ in der DDR-Kirche gewesen war und nun erster frei gewählter Ministerpräsident in der Noch-DDR wurde. So war Angela Merkel mittendrin, als der Einigungsvertrag entstand und auch bei den 2+4-Verhandlungen dabei, mit denen die Alliierten die deutsche Wiedervereinigung besiegelten.

Vom Rand der DDR hinein in die Geschichte

Was für eine persönliche Wende in so kurzer Zeit. Vom Rand der DDR mitten hinein in die Geschichte.

Auf ihrer ersten Station in der Politik waren es Männer, die ihre schnelle Auffassungsgabe schätzten, ihre Effizienz, ihre Loyalität. Dazu gehörte bald auch Helmut Kohl, der sie wie nebenbei gefragt habe: „Verstehst du dich mit Frauen?“ Sie wusste nicht, was gemeint war. Dann machte Kohl sie zur Ministerin für Frauen und Jugend. Damit wurde sie selbst prominent und damit angreifbar. Sie galt als „Kohls Mädchen“, als die Ostfrau mit der Topf-Frisur, die keiner ernst nahm – so schrieben vorzugsweise westdeutsche Journalisten über Angela Merkel.

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