Von Narben übersät

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

über Jubilare soll man nur Gutes sagen, über betagte erst recht. Wer 70, 80 Jahre auf dem Buckel und keine allzu großen Sünden auf dem Kerbholz hat, darf an seinem runden Jahrestag zu Recht erwarten, dass die Gratulanten Rosen flechten, statt Dornen zu streuen. Wer gar doppelt so lange hienieden wandelt, nämlich seit 160 Jahren, befindet sich ohnehin jenseits von Gut und Böse und blickt aus der entspannten Warte der Zeitentrückten auf alle jüngeren Exemplare herab. Ja, in menschlichen Kategorien bemessen sind 160 Jahre ein biblisches Alter, und seit den Chronisten des Alten Testaments ist nicht mehr überliefert worden, dass ein Zweibeiner ein derart gesegnetes Alter erreicht hätte. Parteien hingegen schon. Genauer gesagt: eine Partei. Die älteste hierzulande nämlich.

Am 23. Mai 1863 gründete sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein. Zwölf Jahre später schloss er sich mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammen, ab 1890 gab sie sich den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Als ihr Geburtsdatum betrachtet die SPD daher den 23. Mai 1863, heute vor 160 Jahren.

Grund genug für die gesamte Parteiprominenz, heute im Berliner Willy-Brandt-Haus zu feiern: Neben den derzeitigen Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil kommen Bundeskanzler Olaf Scholz sowie Ministerpräsidenten, Bundes- und Landesminister, Abgeordnete aus dem Bundestag, Landtagen und Kommunalparlamenten, Funktionäre aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und Vereinen, die allesamt das rote Parteibuch besitzen. Gemeinsam blicken sie auf stürmische Zeitläufte zurück, die sich von den Entwicklungen aller anderen deutschen Parteien unterscheiden: So langen Einfluss und so viel Pathos hatte keine vergleichbare Massenorganisation, so viele Höhe- aber auch so viel Tiefpunkte, so viel Freud und so viel Leid.

Breslauer Lassalle-Fahne: Die Jahreszahl 1863 markiert das Gründungsjahr des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. (Quelle: imago images)

Die Geschichte der SPD kennt viele Helden. August Bebel, den Gegenspieler des Pickelhaubenkaisers. Philipp Scheidemann, der 1918 die Republik ausrief. Friedrich Ebert, den ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik. Otto Wels, der unter den Augen von SA-Schlägern die letzte freie Rede im Reichstag hielt, bevor die Nazis die Demokratie zerschlugen. Kurt Schumacher, der zehn Jahre im Konzentrationslager überlebte und die Partei mit eisernem Willen nach 1945 wieder aufrichtete. Willy Brandt, den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler, der mehr Demokratie wagte, die verknöcherte Nachkriegsrepublik reformierte und den Mächtigen in Moskau die Hand reichte, als dort noch friedliebende Gestalten saßen. Gustav Heinemann und Johannes Rau, die das Bundespräsidentenamt mit großer Autorität ausfüllten. Mit Annemarie Renger, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Regine Hildebrandt endlich auch drei Frauen, die den Herren in Parlament und Ministerien zeigten, wie es auch anders geht: diverser, empathischer. Franz Müntefering als meisterhaften Machttaktiker, der die rebellische Partei auf Kurs hielt, ohne ihr die Seele zu rauben.

Und natürlich waren da auch jene, derer man sich im Willy-Brandt-Haus heute nicht mehr so gern erinnert. Herbert Wehner, der reden konnte wie kein Zweiter, aber während seines Exils in der Sowjetunion politische Rivalen denunzierte. Der Agendakanzler Gerhard Schröder, der als Putins Marionette endete. Rudolf Scharping, der als Verteidigungsminister Bundeswehrsoldaten auf den Balkan schickte, während er mit seiner Gräfin im Hotelpool turtelte. Sigmar Gabriel, der mal dies und mal das sagte und trotzdem glaubte, er habe immer recht. Das Politikgenie Oskar Lafontaine, das sein Ego über das Wohl der Partei stellte und ihr damit mehr Schaden zufügte als jeder andere Genosse in der jüngeren Geschichte.

Nicht nur ihre Köpfe, auch die Positionen der SPD schüren Emotionen: Es ist die Diskrepanz zwischen hehren Idealen und realpolitischen Zwängen, die ihren Anhängern seit jeher Schmerzen zufügen. So ist der an seiner Partei leidende Sozialdemokrat im Biotop der deutschen Politik zu einer eigenen Gattung mutiert: der Homo socialis patiens sozusagen. So viele Bürden nimmt er auf sich, so viele Kompromisse schluckt er und so viele Rückschläge steckt er weg, dass sein politisches Nervenkostüm von Narben übersät ist. Dennoch bleibt immer ein Häuflein Unermüdlicher, die Treuesten der Treuen.

Darin liegt eine große Leistung. Die SPD hat sich eigentlich nie der staatspolitischen Verantwortung entzogen. Manchmal ging das so weit, dass sie sich bis zur Unkenntlichkeit verbog. Etwa in den schmerzhaften Jahren der Großen Koalitionen unter der heimlichen Sozialdemokratin Angela Merkel, die es geschickt verstand, der SPD das Herzblut auszusaugen, um damit ihre CDU aufzupäppeln.

Am Ende schafften es die Genossen nach 16-jähriger Durststrecke trotzdem wieder mal ins Kanzleramt. Weil viele Bürger einen Wechsel ersehnten, weil die Konkurrenten Laschet und Baerbock noch schwächer waren als Olaf Scholz und weil die SPD sich auf ihre Kernbotschaft besann: soziale Gerechtigkeit. Vulgo: die Umverteilung von wachsenden Steuergeldbergen und Firmengewinnen an weniger Begüterte, vor allem zugunsten von Senioren.

Denn das ist die SPD heute vor allem anderen: eine Partei der Rentner. In keiner anderen Altersgruppe schneidet sie so gut ab. So gesehen ist das Motto der heutigen Feier im Willy-Brandt-Haus treffend gewählt: “Fortschritt braucht Gerechtigkeit. Seit 160 Jahren Ideen für morgen” lautet es. Da hierzulande mittelfristig mehr Rentner als Arbeitnehmer leben dürften, kann die SPD also getrost auf eine goldene Zukunft hoffen.

FDP heizt den Grünen ein

Die Nachfolge des wegen Vetternwirtschaft geschassten Energie-Staatssekretärs Patrick Graichen ist geklärt: Gestern präsentierte Wirtschaftsminister Robert Habeck den hessischen Grünen-Politiker Philipp Nimmermann als neuen Kopf für die Energiewende. Und wie geht es nun mit dem umstrittenen Heizungsgesetz weiter, das Habecks Haus so schnell wie möglich auf den Weg bringen will? Dazu sind aus der Ampelkoalition immer mehr gegensätzliche Stimmen zu hören.

Da ist zum einen Bijan Djir-Sarai: Der FDP-Generalsekretär bescheinigt dem derzeitigen Gesetzesentwurf “enorme Defizite”, die sich durch “punktuelle Reparaturmaßnahmen” nicht beheben ließen, und schließt eine schnelle Einigung praktisch aus. Da ist zum anderen Rolf Mützenich: Der SPD-Fraktionsvorsitzende ist schwer genervt von der Vollbremsung der FDP und stellte ihr ein Ultimatum. Die Liberalen hätten 24 Stunden Zeit, der ersten Lesung des Gesetzes zuzustimmen.

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