Fast täglich greift die Ukraine russische Einrichtungen auf der Krim an. Dahinter steckt aber ein größeres Ziel.
Ukrainische Raketen, die im Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte einschlagen, und ukrainische Getreideschiffe, die wieder aus dem Hafen auslaufen können: Die Gegenoffensive der Ukraine scheint auch auf hoher See Erfolge zu haben. Seit Wochen schickt Kiew immer wieder Raketen und Drohnen in Richtung Krim – und kann Erfolge feiern.
Zu diesen zählen nicht nur Treffer wie auf ein im Dock befindliches U-Boot oder teure Radaranlagen. Die russische Marine scheint sich langsam zurückzuziehen. Am Donnerstag meldete Natalia Humeniuk, die Sprecherin der südukrainischen Streitkräfte, dass Landungsboote aus dem Hafen von Sewastopol abgezogen wurden. Dieser ist der wichtigste Hafen der russischen Schwarzmeerflotte. Neben der allgemeinen Verunsicherung durch die Angriffswellen dürften die Attacken noch ein anderes Ziel haben: Die Hoheit über zumindest einen Teil des Schwarzen Meeres zurückzugewinnen.
Das hat auch wirtschaftliche Gründe: Ein Großteil des ukrainischen Getreides wurde per Schiff exportiert. Russland blockierte die Routen zunächst, stimmte dann einem Getreideabkommen zu und stieg zuletzt wieder aus. “Ihr Ziel besteht im Wesentlichen darin, uns wirtschaftlich zu ersticken”, sagte Andriy Zagorodnyuk, ehemaliger Verteidigungsminister der Ukraine und jetzt Berater des Verteidigungsministeriums, gegenüber dem US-Magazin “Newsweek”.
Um das zu verhindern, sei es wichtig, die russische Schwarzmeerflotte zu zerstören. “Es gibt keine andere Option. Und wir sollten diese Option verfolgen, bis sie erledigt ist”, so Zagorodnyuk.
Erneut durchbricht ein Getreidefrachter die Seeblockade
Von einer russischen Kontrolle der Schiffsrouten kann kaum mehr eine Rede sein. Der Getreidefrachter “Aroyat” ist am Freitag trotz der russischen Seeblockade aus dem ukrainischen Hafen Tschnornomorsk ausgelaufen. Das Schiff sei mit 17.600 Tonnen Getreide auf dem Weg nach Ägypten, teilte der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow am Freitag auf Facebook mit. Die unter der Flagge von Palau laufende “Aroyat” sei damit bereits der zweite Frachter, der durch den von der Ukraine eingerichteten temporären Seekorridor ein- und wieder ausgelaufen sei, betonte er.
Eine Seeschlacht wird es aber nicht geben, mangels einer ukrainischen Marine. Deshalb hat Kiew eine andere Strategie eingeschlagen: Attacken auf die Infrastruktur, wie Luftverteidigungssysteme und Radaranlagen, Schwächung der Luftabwehr durch Drohnenschwärme und gezielte Schläge mit Mittelstreckenraketen. Beim Angriff auf das Flottenhauptquartier sollen britische Storm-Shadow-Raketen eingesetzt worden sein, berichtete der britische Sender Sky News.
“Die Ukraine identifiziert und entwickelt diese Sicherheitslücken in der russischen Verteidigung auf der Krim”, sagte Andriy Ryzhenko, ein pensionierter ukrainischer Marinekapitän und jetzt strategischer Experte beim Verteidigungs- und Logistikberatungsunternehmen Sonata, gegenüber “Newsweek”. Insbesondere die Zerstörung von Luftverteidigungsanlagen, sagte Ryschenko, “wird die Intensität des Kampfes erhöhen.”
Bedenken in den USA wegen Effektivität der Angriffe
Nicht überall werden diese Attacken als sinnvoller achtet. Ein ungenannter hochrangiger US-Verteidigungsbeamter sagte kürzlich gegenüber dem US-Sender CNN: “Es hat die Russen ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht, aber es bringt nichts Entscheidendes … Und es wäre wahrscheinlich für alle besser, wenn sie sich nur auf die Gegenoffensive konzentrieren würden.”
Soldaten der Schwarzmeerflotte werden auch an der Front eingesetzt. Wie das amerikanische “Institute for the Study of War” (ISW) am Donnerstag schrieb, sind “Elemente der 810. Marineinfanteriebrigade der Schwarzmeerflotte an kritischen Verteidigungsoperationen im westlichen Oblast Saporischschja beteiligt, und das 22. Armeekorps der Schwarzmeerflotte verteidigt Stellungen am Ostufer des Oblast Cherson.”