Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
das Leben ist kein Wunschkonzert. Ende dieser Woche werden Wunsch und Wirklichkeit hart aufeinandertreffen, wenn die Mitglieder der Ukraine-Kontaktgruppe – Verteidigungsminister und Militärs aus zahlreichen Ländern – auf dem US-Stützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein über die weitere Unterstützung für Kiew beraten. Zum gefühlt 253sten Mal seit Beginn des Krieges wird es auch um die Lieferung deutscher Leopard-Kampfpanzer gehen. Der frischgebackene Verteidigungsminister Boris Pistorius wird sich dazu vielleicht erstmals mit einer klaren Entscheidung positionieren. Oder er greift zu den gewohnt gewundenen Worten, mit denen die Bundesregierung bisher versucht hat, zu den Forderungen nach Kampfpanzern nicht zu schweigen, ohne irgendetwas zu sagen.
Wäre das Leben wirklich ein Wunschkonzert, bräuchte der ukrainische Präsident Selenskyj die deutschen Panzer gar nicht. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Europa dürfte sich eher für einen anderen Begriff begeistern: Frieden. Mittlerweile gilt es jedoch als ausgemacht, dass die Kämpfe in der Ukraine noch viele Monate, möglicherweise sogar jahrelang dauern werden. Es wäre schön, würden Kriege irgendwann einfach von selbst aufhören, aber auch das gehört leider in die Welt des Wunschdenkens. Dazu muss man nicht erst den Hundertjährigen Krieg bemühen, bei dem Engländer und Franzosen nicht voneinander abließen, oder den Dreißigjährigen Krieg, der in Europa ganze Landstriche entvölkerte. Die Gegenwart ist voll von bewaffneten Konflikten, die nicht enden. Ob in Somalia oder im Jemen, in Libyen, in Mali und anderswo: Die Jahre vergehen, aber das Töten läuft sich nicht von selbst tot.
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Wenn also der Krieg in der Ukraine irgendwann einmal vorbei sein soll, dann muss man aktiv dafür sorgen. Ohne Geduld kommt man dabei nicht weit, denn weder Putin noch Selenskyj sind zurzeit zum Schritt an den Verhandlungstisch bereit. Und was sollten sie auch aushandeln? Putin hat bewiesen, dass er sich um Verträge nicht schert. Ganz egal, wie mächtig er ist, seine Unterschrift ist mittlerweile nichts mehr wert. Erst hat er den Krieg vom Zaun gebrochen, dann die Schlächter von Butscha mit Orden dekoriert, und seither wedelt er immer wieder locker aus dem Handgelenk mit Atomwaffen. Dem Zyniker im Kreml kann man nicht das kleinste Quäntchen Friedenswillen unterstellen – allenfalls mal ein Stillhalten aus taktischen Motiven, solange es gerade passt.
Damit sich das ändert, muss es erst die Gesamtlage tun. Nicht nur die Russen, auch die Ukrainer würden sich gegenwärtig zu einem Waffenstillstand nur bereitfinden, wenn sie glaubten, einen einseitigen Vorteil für sich herausschlagen zu können. Nachschub an die Front, neue Einheiten aufstellen, für die nächste Offensive trainieren, Verteidigungsstellungen ausbauen: Es gibt viel zu tun, während gerade keiner schießt. Eine solche Atempause ist kein Beitrag zur Entschärfung der Lage. Ein Scheinfrieden dieser Art wird als eingefrorener Konflikt bezeichnet, auch wenn das etwas irreführend ist. Denn die Beteiligten verharren nicht in tiefgekühlter Starre, sondern rotieren und rüsten auf, was das Zeug hält. Stabilität sieht anders aus.
Wie erreicht man sie? Damit der Konflikt nicht nur kurzzeitig abgekühlt, sondern wie von Permafrost umhüllt wird, müssen sich zunächst die Russen verabschieden – und zwar vom Glauben, dass eine Unterwerfung der Ukraine, und sei es nur in Teilen, früher oder später möglich ist. Dazu braucht es: viele russische Niederlagen. Und einen so nachhaltigen Strom von militärischer, politischer und wirtschaftlicher Unterstützung des Westens für die Ukraine, dass sich selbst Putin nicht mehr in die Tasche lügen kann. Nur so ist sicher, dass seine Unterschrift unter ein Abkommen nicht nur der Täuschung dient. Es zählt allein die Kraft des Faktischen: Wenn der Kreml im Krieg für sich keine Chance sieht, dann führt er ihn nicht.
Aber auch zu einem frostigen Frieden gehören immer zwei. Solange die ukrainische Armee nicht den letzten russischen Soldaten aus den Gebieten vertrieben hat, die Putin im Februar überfallen hat, gibt es keine Chance auf ein Ende der Kämpfe. Selbst Selenskyj verfügt nicht über die Autorität, um Teile der angegriffenen Gebiete aufzugeben. Nach all den Opfern, Luftangriffen, russischen Gräueltaten und den mörderischen Schlachten im Osten kann es kein ukrainischer Politiker wagen, einen “Ausverkauf” an den Aggressor zur Debatte zu stellen. Ukrainische Erfolge auf dem Schlachtfeld sind nicht nur nötig, um Putin zur Besinnung zu bringen. Ohne sie findet ein Frieden, wie brüchig auch immer, im Land der Angegriffenen keine Akzeptanz.
Es ist also kein einfacher Weg, auf dem der Krieg sich bis zum Stillstand tiefgefrieren lässt. Am Ende starren sich zwei waffenstarrende Feinde gegenseitig in die Augen. Aber dann? Wie geht es dann weiter? Nun, man zählt. Die Wochen, die Monate, die Jahre. Man wartet, bis die Zeit vom Herrscher im Kreml, wie von jedem Sterblichen, schließlich ihren Tribut fordert.
Das wird wahrscheinlich lange dauern. Für Putins vorzeitige Abdankung spricht derzeit nichts. Trotz einer bizarren Kaskade an Fehlentscheidungen hat er sein Regime noch immer im Griff. Auf eine Palastrevolte darf man wohl hoffen, aber hoffen darf man auch auf den Weihnachtsmann. Manche Beobachter klammern sich an den Strohhalm, dass Putin vielleicht schwer krank sei und mit einem Bein schon im Grab stehe. Die Gerüchte kursieren schon seit vielen Jahren. Sagen wir es so: Für jemanden, der schon seit einer halben Dekade stirbt, wirkt Putin noch ganz schön fit. Gewiss, irgendwann wird auch seine Zeit gekommen sein. Dann werden die Karten neu gemischt. Bis dahin wird der Westen aber wahrscheinlich einen langen Atem brauchen.
Der Weg zu einem wackeligen Frieden muss deshalb seltsame Windungen nehmen. Eine Nuklearmacht wie Russland lässt sich nicht in Grund und Boden besiegen. Dem Terroristen im Kreml kann man nicht über den Weg trauen, trotzdem führt an einem Arrangement mit ihm kein Weg vorbei. Das ist nur ein irrwitziges Paradox von vielen. Um das Töten irgendwann zu beenden, ist jetzt das Gegenteil nötig: die Ukraine im Krieg zu unterstützen – massiv, glaubhaft und auf Dauer. Und ja, auch mit dem deutschen Leopard. Auf diesem schmalen Grat kann man zu einem kalten Frieden kommen, der gefährdet bleibt und von dem man die Augen für keinen Moment abwenden darf. Man würde sich bessere Perspektiven als diese wünschen, aber immerhin ist es eine. Das Leben ist eben leider kein Wunschkonzert.