Der ukrainische Präsident hat überraschend eine politische Lösung der Krim-Frage ins Spiel gebracht. Dahinter steckt wohl die stockende ukrainische Gegenoffensive.
Die ukrainische Armee meldete Anfang der Woche einen kleinen Erfolg: Bei Robotyne, einem zu Ruinen zerbombten Dorf in der Südukraine, wurde die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen. Der kleine Ort im Gebiet Saporischschja drohte nach Bachmut zum nächsten “Fleischwolf” des Ukraine-Kriegs zu werden – fast drei Monate kämpfte die Ukraine darum, mit teils hohen Verlusten.
Neben dem militärischen Durchbruch deutete sich auch ein politischer an – zumindest was seine politische Sprengkraft betraf: Erstmals seit Beginn der Gegenoffensive brachte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview eine politische, statt einer rein militärischen Lösung der Krim-Frage ins Spiel. Wörtlich sagte Selenskyj: “Wenn wir an den Verwaltungsgrenzen der Krim sind, denke ich, kann man die Entmilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel politisch erzwingen.” (Hier lesen Sie mehr dazu.)
Das lässt einiges an Interpretationsspielraum zu, doch deutet zugleich einen Kurswechsel der ukrainischen Führung an. Offiziell galt bisher die Devise, sämtliche von Russland besetzten Gebiete zu befreien und die Grenzen von 1991 wiederherzustellen. Auch wenn ukrainische Regierungsvertreter hinter vorgehaltener Hand beim Thema Krim durchaus Gesprächsbereitschaft zeigten – öffentlich hielt man an der Rückeroberung der Schwarzmeerhalbinsel fest.
Kiew rennt die Zeit davon
Schon im Juli hatte Selenskyj in einem Interview mit ABC News nahegelegt, Putin werde erst verhandeln, wenn ukrainische Truppen vor den Toren der Krim stünden. Dass Selenskyj selbst Verhandlungen bevorzugt, sollte dieser Moment eintreten, ist neu – und könnte mit der derzeitigen Lage auf dem Schlachtfeld zu tun haben.
Denn die ukrainische Gegenoffensive, die Anfang Juni gestartet ist, läuft nicht, wie es Kiew und der Westen erhofft hatten. Nach drei Monaten schwersten Kämpfen sind die Ukrainer nur wenige Kilometer tief in russisch besetztes Gebiet vorgedrungen. Auch rennt den ukrainischen Kampfbrigaden die Zeit davon: Bis zum Beginn der Schlammperiode im Oktober sind es nur noch wenige Wochen, danach werden Offensivoperationen immer schwieriger.
Wohl nicht zufällig schlägt Selenskyj den neuen Ton in einem Interview mit dem ukrainischen Fernsehen an, das sich vor allem ans heimische Publikum richtet. Das Ziel dahinter könnte sein, die ukrainische Gesellschaft schon jetzt dafür zu sensibilisieren, dass man die Ziele der Offensive wohl wird herunterschrauben müssen. Anfang des Jahres hieß es aus Kiew noch, 2023 werde das “Jahr des Sieges”. Der Optimismus ist mittlerweile verflogen, die russische Verteidigung wurde unterschätzt.
Hohe Verluste der ukrainischen Armee
Warum Selenskyji den Kurswechsel gerade jetzt vollzieht, deutet er selbst an: “Ich glaube, es wäre besser”, vor allem für “diejenigen, die das [die militärische Eroberung] durchsetzen würden”. Der ukrainische Präsident spielt damit offenbar auf die zu erwartenden hohen Verluste an, die ukrainische Truppen bei einem Großangriff auf die Krim erleiden müssten.
Schon jetzt hat die Ukraine enorme Verluste zu beklagen: Laut “New York Times” wurden seit Beginn der Invasion rund 70.000 ukrainische Soldaten getötet und bis zu 120.000 verwundet (im Vergleich zu 120.000 toten und bis zu 180.000 verwundeten Soldaten auf russischer Seite). Wie viel davon auf die Sommeroffensive fallen, ist unklar. Die ukrainische Regierung mauert mit ihren Gefallenenzahlen. Doch Berichte von Frontsoldaten, die hin und wieder Medien erreichen, lassen vermuten, dass der Blutzoll hoch ist.
Eine militärische Kampagne zur Eroberung der Krim würde die bisherigen Verluste vermutlich in den Schatten stellen. Denn die Halbinsel sei schon wegen ihrer Geografie schwer einzunehmen, wie Kersten Lahl, Generalleutnant a.D. und ehemaliger Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) t-online sagt: “Es gibt nur zwei schmale Landengen, die das ukrainische Festland mit der Krim verbinden. Für die Russen sind diese Engstellen leicht zu verteidigen, ein ukrainischer Frontalangriff wäre also enorm schwierig.”
Lahl erinnert daran, dass die ukrainische Armee, wie auch die russische, schon jetzt mit Personalproblemen zu kämpfen habe. Eine Alternative zu einem Angriff mit Bodentruppen wäre eine amphibische Operation, also ein Angriff vom Schwarzen Meer aus, so der pensionierte General. Doch das ukrainische Militär verfüge kaum über solche Fähigkeiten.