Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es waren ganz, ganz schwere Tage, die ich durchleben musste. Vielleicht sogar die schwersten meiner – Sie erlauben mir die Indiskretion – an schweren Tagen zugegebenermaßen nicht armen Schulzeit. Denn im Sommer 2002 fand die Fußball-WM in Japan und Südkorea statt, der Unterricht stand meiner Begeisterung für den Sport doch sehr im Wege – fanden die Spiele durch die Zeitverschiebung schließlich gerade dann statt, wenn sich mir eigentlich die wunderbaren Welten von Stochastik, französischer Grammatik oder Thermodynamik erschließen sollten.
“Jetzt spielt gerade Brasilien” flüsterten wir mit brüchigen Stimmen, und die Erinnerung an die ob der enttäuschenden Auftritte von Zinédine Zidane und seinen Kompagnons bangen Stunden in den Unterrichtsräumen einer Oberschule in Berlin-Neukölln ist die wohl einzige, die mich bedauern lässt, dass Smartphone und Live-Ergebnis-Apps erst Jahre später erfunden wurden.
Die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen, die heute in Australien und Neuseeland und damit in ähnlicher Entfernung wie das Turnier der Männer vor 21 Jahren startet, hat zumindest dieses Problem in Deutschland nicht – denn die meisten Bundesländer sind bereits kurz vor oder nach Turnierstart in den Sommerferien. Der Anlauf der deutschen Nationalmannschaft auf ihren dritten WM-Titel nach 1999 und 2007 kann also ungestört von schulischen Verpflichtungen landesweit Adoleszenzen prägen.
Dabei ist das Turnier im Erfolgsfall eine große Chance für den deutschen Frauenfußball: Die Frauen haben die Chance, in Beliebtheit und Popularität mit den Männern gleichzuziehen – oder diese sogar zu überholen. Es wäre die nächste Stufe in der stetig voranschreitenden Entwicklung des Sports, die in den vergangenen Jahren enorm beschleunigt wurde. Dieses Turnier kann historisch werden. Ja, um einen zuletzt inflationär verwendeten Begriff zu gebrauchen: Es wäre sogar eine Zeitenwende im deutschen Fußball. Diese Aussicht muss den Platzhirschen Angst machen – zu Recht.
“Diese Mannschaft ist vielfältig, sie ist bunt, sie lebt. Das merkst du auf und neben dem Platz. Sie strahlen eine unglaubliche Positivität aus. Die Menschen schätzen den ‘ehrlichen’ Fußball dieser Mannschaft”, sagt Joti Chatzialexiou im Interview mit meinem Kollegen Noah Platschko über die Auswahl, die Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg in Ozeanien ins Titelrennen schickt. Damit beschreibt er eine Vielzahl der Vorzüge, die der Auswahl der Männer seit geraumer Zeit abgesprochen werden. Der Sportliche Leiter des DFB erklärt weiter: “Der Einsatz und die Lust zu verteidigen waren bei der Europameisterschaft bemerkenswert. Das letzte Hemd zu geben, das hat die Fans in den Bann gezogen.” Einsatz und insbesondere große Lust ließen die Herren dagegen schon länger allenfalls selektiv erkennen.
Die A-Nationalmannschaft der Männer, seit Jahrzehnten eigentlich das Prunkstück des mit über sieben Millionen Mitgliedern größten Einzelsportverbands der Welt, darbt. Sie erlebt eine ernste – und zugleich die erste wirklich große – Phase des sportlichen und gesellschaftlichen Abstiegs: Erfolge bleiben aus, Einschaltquoten und Fan-Begeisterung sinken stetig, und selbst hartgesottenste Ultras des viermaligen Weltmeisters rollen bei den Durchhalteparolen von Bundestrainer Hansi Flick entnervt die Winkelemente zusammen.
Der Frauenfußball dagegen boomt, strahlt Frische und Leichtigkeit aus – und das nicht nur in Deutschland. Das Champions-League-Finale zwischen dem FC Barcelona und dem VfL Wolfsburg in Eindhoven war ausverkauft, das Endspiel der letztjährigen Europameisterschaft zwischen England und Deutschland verfolgten hierzulande durchschnittlich fast 18 Millionen Zuschauer live im TV, in der Spitze sogar 21,9 Millionen – Zahlen, von denen die Männer gegenwärtig nur träumen können, von der trostloseren sportlichen Perspektive ganz abgesehen.
Diese Entfremdung ist beileibe kein spezifisch deutsches Problem in Zeiten, in denen der Fußball zunehmend von windigen bis politisch fragwürdigen Investoren vereinnahmt wird. Zeiten, in denen grotesk hohe Gehälter bei zahlreichen namhaften und ehemals namhaften Spielern jegliche Skrupel vor einem Wechsel nach Saudi-Arabien sedieren und eine Klub-Kuriosität wie Inter Miami den unlängst verpflichteten Tausendsassa Lionel Messi präsentiert wie Aale-Dieter den Fang vom Morgen auf dem Hamburger Fischmarkt.
Tatsächlich gelingt es den DFB-Frauen, Authentizität, Natürlichkeit und Bodenhaftung zu transportieren, ob in Interviews oder über die sozialen Medien. Selbst der Instagram-Account der Mannschaft gerät für Verhältnisse des nicht als Bespaßungsbutze bekannten Verbands ausnehmend locker, mitunter streifen Beiträge gar den Bereich der Komik. Oder haben Sie die männlichen Stars schon mal so unbekümmert herumalbern sehen?
Der Social-Media-Auftritt der Herren wartet dagegen auf mit einer Flut an Videos, die locker und inspirierend sein wollen und dabei alles sind, nur eben nicht locker und inspirierend. Die Spieler selbst trifft da am wenigsten die Schuld. Eher wirken manche der Clips derart unterkühlt und steril, als wären die bemitleidenswerten Nationalspieler mit kompromittierenden Fotos oder durch schurkisches Kidnapping ihrer geliebten Haustiere zur Teilnahme gezwungen worden.
Echter, ehrlicher – sportlicher: Das ist das Image, das der Frauenfußball von sich selbst verbreitet. Die Diskussion läuft dabei ständig Gefahr, zur wenig sachlichen Stammtischdebatte zu verkommen. Sie wissen schon: So wie im “Doppelpass” bei Sport1, in dem während der laufenden Saison an jedem Sonntag altgediente Ex-Fußballer in Sakko, Jeans und Turnschuhen gemeinsam mit plauderfreudigen Journalisten in Sakko, Jeans und Turnschuhen vom Krieg auf dem Platz anno dunnemals erzählen, wobei Expertise und Gefühl nicht immer in angemessenem Verhältnis dosiert sind. Die Damen sind da nüchterner. “Mir ist kein weiblicher Neymar bekannt. Ich kenne keine Spielerin im Frauenfußball, die zwei, drei Minuten auf dem Boden liegen bleibt”, erklärte Nationalspielerin Sophia Kleinherne jüngst im “Playboy”.