Flüchtlingsstreit: Die Emotionen kochen hoch

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

das letzte Treffen endete mit Lippenbekenntnissen und Schimpftiraden. Drei Monate ist das her, die Innenministerin wird sich nur ungern daran erinnern. Immerhin kann ihr heute der Kanzler zur Seite springen. Den Flankenschutz braucht sie, denn auf der anderen Seite des Verhandlungstisches sitzen mit schlagkräftigen Argumenten gerüstete Gegenüber: Die 16 Ministerpräsidenten sind sich quer durch die Parteien einig, dass der Bund mehr Geld rausrücken soll. Genau das schließen die Ampelkoalitionäre jedoch aus – Strom- und Gaspreisbremse, Bundeswehr-Sondervermögen und Schuldendienst sind einfach zu kostspielig.

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Das ist die Ausgangslage beim heutigen Bund-Länder-Gipfel zu den Flüchtlingskosten. Um 14 Uhr geht’s los, vorher wird in Radio- und Fernsehinterviews scharf geschossen. Ob es hinterher doch noch eine Einigung gibt, wenn Olaf Scholz, Hendrik Wüst aus NRW und der Niedersachse Stephan Weil ihre Pressekonferenz geben? “Das Spitzentreffen droht zu scheitern”, berichtet unsere Reporterin Annika Leister.

Tatsächlich sind die Probleme riesig, und sie wachsen jeden Tag: Schon mehr als eine Million Ukrainer hat Deutschland aufgenommen, hinzu kommen 100.000 Asylbewerber aus anderen Ländern – allein in diesem Jahr. Damit hat Deutschland in den vergangenen Monaten mehr Menschen aufgenommen als während der Flüchtlingskrise 2015/2016. Kommunen schlagen Alarm: Es fehlen Wohnungen, Schulplätze, Integrationshelfer, Personal in Ausländerbehörden und natürlich Geld. Politiker fürchten um den gesellschaftlichen Frieden (und das Erstarken der AfD).

Deshalb hagelt es nun stündlich Vorschläge, wie die Migranten aufzuhalten seien – vor allem jene, die übers Mittelmeer und die Balkanroute kommen: mehr Zäune, mehr Grenzkontrollen, mehr Abschiebungen, Transitzentren an den Außengrenzen der EU. “Wir müssen zu einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen kommen”, sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds und fordert vom heutigen Gipfeltreffen “einen Neustart in der Migrationspolitik”.

Das Problem: Deutschland kann hier fast nichts allein durchsetzen. Es braucht willige Partner in der EU – doch da geht es beim Thema Migration seit Jahren nicht voran. “Es scheitert immer wieder an den gleichen Mitgliedsstaaten: Italien, Polen, Ungarn, Dänemark, Schweden”, sagt der SPD-Europapolitiker Martin Schulz im Interview mit meinem Kollegen Patrick Diekmann. “Nicht die EU, sondern der populistische Nationalismus ist das Problem.”

Helfen rationale Argumente gegen die Blockade der Populisten? Zumindest braucht die Migrationsdebatte dringend mehr Fakten als Emotionen. Deshalb habe ich Gerald Knaus gebeten, für den heutigen Tagesanbruch einige Fragen zu beantworten. Der Österreicher zählt zu den führenden Migrationsexperten und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Einwanderung und Flucht nach Europa. Hier sind seine Antworten:

Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative.
Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative. (Quelle: imago images)

Herr Knaus, die EU-Staaten wollen die zunehmende Einwanderung von Flüchtlingen und Migranten durch verschärften Grenzschutz unterbinden. Kann das gelingen?

Gerald Knaus: Mauern und Zäune als Mittel des Grenzschutzes sind nicht illegal. Was illegal ist, sind “Pushbacks”, also Gewalt an den Grenzen. Menschen, die die Europäische Union erreichen, zurückzustoßen, ist illegal. Menschen auszurauben und sie ins Wasser zu stoßen, ist illegal. Das ist mit dem Europäischen Recht nicht vereinbar. Trotzdem passieren diese Dinge an den EU-Außengrenzen Polens, Kroatiens und Griechenlands. Grenzschutz durch Zäune, Drohnen und andere Infrastruktur ist legal, solange EU-Recht angewandt wird, das heißt, solange niemand zurückgestoßen wird. Denn jeder hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen.

Wie müsste ein effektiver Grenzschutz aussehen, der einerseits dauerhaft funktioniert, andererseits die Rechte der Migranten wahrt?

Das Ziel der europäischen Demokratien sollte ein Dreiklang sein: erstens schnelle und faire Asylverfahren, zweitens strategische Abschiebungen und drittens großzügige Hilfe für Erstaufnahmeländer. Wir sollten Asylverfahren so durchführen, dass wir andere Staaten überzeugen können, dass Asyl möglich ist. Staaten überall in der Welt sollten dabei unterstützt werden, eigene Asylsysteme aufzubauen. Das würde dazu führen, dass wir mit Rückführungen diejenigen, die keinen Schutz brauchen, von irregulären Einreisen abhalten und dafür legale Mobilität anbieten. Wir sollten Neuansiedlungsprogramme ausbauen, damit sich weniger Menschen in die Hände von Schleppern begeben. Und die Hilfe für Flüchtlinge in Erstaufnahmeländern ausbauen.

Trotz zahlreicher Anläufe haben es die EU-Länder bis heute aber nicht geschafft, eine gemeinsame Migrationspolitik zu entwerfen. Warum nicht?

Sowohl innerhalb der EU als auch zwischen EU-Staaten und Herkunftsländern gibt es unterschiedliche Interessen und Ansichten. Und selbstverständlich müssen wir jenen Schutz gewähren, bei denen ein Asylgrund oder eine andere Schutzbedürftigkeit vorliegt. Andernfalls, so sieht es das Gesetz vor, sind sie in ihre Herkunftsländer abzuschieben.

Aber die meisten Ausreisepflichtigen bleiben hier.

Ja, es scheitert an den Rückführungen. Ein effektiver Grenzschutz besteht nicht allein aus Zäunen. Rückführungen sind für einen dauerhaften Grenzschutz notwendig, damit die Zahl der nicht Schutzbedürftigen zurückgeht. Hier gab es bis jetzt keine ernsthaften Bemühungen, mit den Ursprungsländern zu verhandeln, ihnen ernsthafte Angebote zu machen, damit sie ihre ausreisepflichtigen Staatsbürger aufnehmen. Das ist kompliziert, weshalb es bis jetzt nicht seriös verfolgt wurde.

Wie sähe eine Migrationspolitik aus, von der sowohl Zuwanderer als auch die Aufnahmeländer profitieren?

Alle unsere Gesellschaften brauchen Zuwanderung, um ihren Wohlstand aufrecht zu erhalten. Das ist ein gutes Argument für Migration, aber keines für gefährliche irreguläre Migration. Selbst kleine Zahlen von Menschen, die irregulär kommen, erzeugen eine viel größere Verunsicherung als größere Zahlen regulärer Zuwanderung. Der beste Weg wäre es, mit humanen Methoden – wie Partnerschaften und Rückführungen – irreguläre Migration zu reduzieren. Und gleichzeitig reguläre Migration zu steigern.

Das geht nur, indem man die Neuansiedlung Schutzbedürftiger ausweitet: durch mehr legale Einwanderungswege für schutzbedürftige Flüchtlinge, aber auch für Menschen, die Arbeit suchen und hier gebraucht werden. Unter der Merkel-Regierung gab es eine Fluchtursachenkommission. Sie hat empfohlen, dass Deutschland zumindest so viele Flüchtlinge im Jahr neu ansiedeln solle wie Schweden. Das wären 40.000 Flüchtlinge pro Jahr, die so ohne Schlepper und Lebensgefahr Deutschland erreichen würden. Das wäre ein schlüssiges politisches Programm für ein humanes Flüchtlingssystem.

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