Einer, der Wladimir Putin lange kennt und oft getroffen hat, ist Henry Kissinger. Der US-Diplomat spricht über die Beweggründe des Kremlherrschers und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges.
Henry Kissinger zählt zu den einflussreichsten Politikern des 20. Jahrhunderts. Der Harvard-Professor und frühere Außenminister der USA diente unter den republikanischen Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford und war wesentlich für die großen Linien der amerikanischen Außenpolitik zuständig. Kissinger, der am 27. Mai 100 Jahre alt wird, gilt als bedeutender politischer Stratege.
In einem Interview mit der “Zeit” äußerte er sich nun zum Ukrainekrieg, seinen Treffen mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin und der Möglichkeit eines Atomkrieges. “Ich glaube nicht, dass Putin Atomwaffen einsetzen wird, um seine Eroberungen in der Ukraine zu verteidigen. Aber je mehr es um den Kern der russischen Identität geht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er es tut”.
Zur Motivation Putins, seine Truppen in das Nachbarland einmarschieren, ganze Städte zerstören und schwerste Verbrechen an der Zivilbevölkerung verüben zu lassen, sagte Kissinger: “Ich glaube, er hat sich übernommen. Er hat, denke ich, den Eindruck gewonnen, er werde nicht ernst genommen. Die Ukraine ist für ihn ein Symbol für Russlands Erniedrigung.”
“Wäre extrem gefährlich für Russland, Atomwaffen einzusetzen”
Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin sieht “die maßgebliche Tragödie unseres Landes” in der Über-Identifikation des Autokraten mit seinem Volk. Putin setze sich mit Russland gleich und wie einst Iwan der Schreckliche, der grausamer Herrscher im Mittelalter, throne auch der Mann im Kreml an die Spitze der russischen Machtpyramide. “Eine Crux der Machtpyramide besteht nun darin, dass der zuoberst Sitzende seine Psychosomatik auf das ganze Land überträgt”, so Sorokin. Ein entscheidender Teil dieser Psychosomatik sei das Denken des KGB-Offiziers, das Putin “nie aus sich herausbekommen habe.”
Der frühere Top-Diplomat Kissinger würde diese Analyse wohl teilen. Er kennt Putin persönlich, traf sich in den 90er-Jahren das erste Mal mit dem damals außerhalb Russlands noch unbekannten ehemaligen KGBler. Putin erzählte Kissinger, dass er seine Karriere im Geheimdienst begonnen habe. “Alle guten Leute beginnen ihre Karriere im Geheimdienst. Ich auch”, entgegnete Kissinger darauf.
Kissinger ist einer der wenigen Amerikaner mit langjährigem Zugang zum russischen Autokraten. Bis zuletzt traf er Putin regelmäßig zu Gesprächen, mal im Kreml, mal in Putins Datscha. Er weiß, wie Putin tickt, was ihn umtreibt. Als der frühere US-Präsident Donald Trump 2016 die amerikanische Russlandpolitik stärker am Kreml ausrichten wollte, bot Kissinger sich als Vermittler an.
Auch zuletzt habe es Signale aus Moskau gegeben, ihn als Mittelsmann im Ukrainekrieg einzubeziehen. Doch Kissinger lehnte ab. Er wolle der gegenwärtigen Regierung nicht dazwischenfunken.
Zu Putins gerade in den ersten Monaten des völkerrechtswidrigen Krieges gegen die Ukraine wiederholten Drohungen, notfalls auch Atomwaffen einzusetzen, sagt Kissinger der “Zeit”: “Es wäre extrem gefährlich für Russland, Atomwaffen einzusetzen. Denn der Westen kann nicht zulassen, dass Atomwaffen zum entscheidenden Faktor in einem Krieg werden.”
Kissingers zweifelhafte Rolle in Vietnam und Chile
Für den Fall eines solchen nuklearen Szenarios sieht er eine düstere Epoche heraufziehen. Der 1923 im fränkischen Fürth geborene und im Alter von fünfzehn Jahren mit seiner Familie vor den Nazis in die USA geflohene Kissinger spricht in dem Zusammenhang von einer neuen Dimension globaler Aufrüstung. “Das würde zu einer atomaren Bewaffnung aller Staaten führen. Dann würden nukleare Waffen konventionell.” Der Westen müsse deutlich machen, dass Atomwaffen niemals die Lösung politischer Probleme sein können. Das könne nur die Politik selbst, also die Diplomatie.