Erdoğans Demütigung – und was sie wirklich bedeutet

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

was für ein Wahlabend! Nein, ich meine nicht die Landtagswahl in Bremen, sondern die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei. Die Beteiligung war sehr hoch, das Ergebnis knapp. Doch nahezu alles deutet darauf hin, dass die finale Entscheidung erst in zwei Wochen fällt. Dann stehen sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu wahrscheinlich in einer Stichwahl gegenüber (lesen Sie hier die Analyse meines Kollegen Patrick Diekmann).

Unabhängig davon, ob Sie politisch konservativ, links oder mittig orientiert sind: Dieses Wahlergebnis sollte für alle Demokraten ein ermutigendes Signal sein. Denn was sich in der Türkei in den vergangenen Jahren beobachten ließ, passierte auch in vielen anderen Ländern: Die Politik wurde extremer, autoritärer, irrsinniger.

Unter anderem führte diese Entwicklung dazu, dass der Lügenbaron Donald Trump es bis ins Weiße Haus schaffte, Wladimir Putin sein kriselndes Riesenreich in einen brutalen Krieg gegen die Ukraine trieb, Viktor Orbán die Demokratie in Ungarn aushöhlte und Boris Johnson das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union bugsierte.

Natürlich unterscheiden sich die genannten Beispiele vor allem mit Blick auf die Folgen des jeweiligen Handelns all dieser verstörenden Männer (ja, es sind immer wieder Männer, die für viel Unheil in der Welt sorgen). Aber radikal sind sie auf ihre Art alle.

Allerdings ist die Wahl in der Türkei nun ein Hoffnungsschimmer, dass eben nicht alles immer nur schlimmer wird, sondern dass sich Dinge auch bessern können. Und das heißt eben auch, dass Politik tendenziell gemäßigter, demokratischer, vernünftiger werden kann.

Viele Wählerinnen und Wähler in der Türkei guckten am Sonntag ganz genau hin. (Quelle: imago images)

Die eigentliche Sensation ist, dass nicht schon vorher feststand, wer die Wahl gewinnt. Erdoğan regiert seit nunmehr 20 Jahren – und mit zunehmend harter Hand. Angesichts dieser Rahmenbedingungen waren bereits jene fast 53 Prozent, die ihm 2018 noch für einen Sieg im ersten Wahlgang reichten, alles andere als berauschend. Nun muss er wohl in die zweite Runde. Für das gebeutelte politische System der Türkei ist das ein Segen, für Erdoğan eine Demütigung.

Und für alle praktizierenden Autokraten und jene, die es noch werden wollen, eine nicht zu überhörende Warnung. Denn das Ergebnis vom Sonntag bedeutet: Man kann einen Autokraten auch abwählen. Radikalisierung ist keine Einbahnstraße.

Die Botschaft vom Sonntag ist auch deshalb so stark, weil sie nicht die einzige ermutigende Entwicklung der jüngeren Vergangenheit ist. Demütigend war es auch für Donald Trump, als er die Präsidentschaftswahl 2020 verlor. Er hat diese Niederlage bis heute nicht verwunden und flüchtet sich noch immer in die Leugnung des Ergebnisses. Ein Verhalten, das eher an einen Sechsjährigen erinnert als an einen 76-Jährigen.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur das mit Abstand Grausamste, das Wladimir Putin anderen angetan hat, sondern auch die schlimmste Entscheidung, die er für sich und sein Regime getroffen hat. Das Ziel, Russland zu alter Stärke zurückzuführen, hat er längst verfehlt.

Ebenfalls demütigend muss es für Xi Jinping gewesen sein, als der vermeintlich allwissende Führer offenbar nicht einmal mehr annähernd mitbekam, was die Chinesen umtreibt und sie von einem Lockdown in den nächsten schickte. Doch dann musste der mächtigste Mann im Land tun, was eigentlich gar nicht vorgesehen ist, sich dem Druck der Bevölkerung beugen und eine Kehrtwende in der Coronapolitik vollziehen.

Nach seiner Wahlniederlage im Dezember traf der frühere brasilianische Präsident Jair Bolsonaro seine Fans lieber in Florida.
Nach seiner Wahlniederlage im Dezember traf der frühere brasilianische Präsident Jair Bolsonaro seine Fans lieber in Florida. (Quelle: imago images)

Im Iran muss ein Regime, das im 21. Jahrhundert Steinzeit-Methoden praktiziert, seit vergangenem Herbst Proteste ertragen. Der Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam löste in Teheran die schwerste politische Krise seit Jahrzehnten aus.

Nachdem der damalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Stichwahl gegen Luiz Inácio Lula da Silva verloren hatte, reiste er noch vor dem offiziellen Ende seiner Amtszeit beleidigt – und wohl auch aus Sorge vor juristischen Konsequenzen – nach Florida. Er kehrte erst nach drei Monaten in seine Heimat zurück.

Moment, werden Sie jetzt vielleicht denken. Aber ganz so positiv, wie es hier dargestellt wird, sind diese Beispiele doch gar nicht. Schließlich ist Erdoğan noch nicht abgewählt, Putin noch Präsident, das iranische Regime genauso wenig gestürzt wie das chinesische und die politische Karriere von Bolsonaro womöglich genauso wenig vorbei wie die von Trump.

Alles richtig. Ich möchte ja nur aufzeigen, dass es durchaus ermutigende Entwicklungen gibt. Ob sich das Pendel tatsächlich bereits von der Seite des Extremismus, Autoritarismus und Irrsinns wegbewegt, ist offen. Vielleicht ist die Lage in ein paar Jahren sogar schlimmer als heute – etwa, weil im Weißen Haus wieder Donald Trump sitzt und im Elysée-Palast Marine Le Pen.

In Israel protestieren die Menschen – wie hier in Tel Aviv – seit Monaten gegen die von Premier Benjamin Netanjahu geplante Justizreform.
In Israel protestieren die Menschen – wie hier in Tel Aviv – seit Monaten gegen die von Premier Benjamin Netanjahu geplante Justizreform. (Quelle: imago images)

Aber im Moment gibt es eben einige Zeichen der Hoffnung. Und nicht nur die zuvor genannten: In Israel ist der Dauer-Premier Benjamin Netanjahu angesichts seiner umstrittenen Justizreform so stark unter Druck wie nie. Die Bevölkerung kämpft für die Demokratie. In Polen scheint ein Machtwechsel im Herbst zumindest im Bereich des Möglichen zu sein. Und in Großbritannien gab es zuletzt Umfragen, nach denen mehr Bürger der Europäischen Union vertrauen als der eigenen Regierung – und eine Mehrheit sogar zurück ins Staatenbündnis möchte.

Auch Norddeutsche können sich freuen – so wie Bremens bisheriger und wohl auch künftiger Bürgermeister Andreas Bovenschulte am Wahlabend.
Auch Norddeutsche können sich freuen – so wie Bremens bisheriger und wohl auch künftiger Bürgermeister Andreas Bovenschulte am Wahlabend. (Quelle: imago images)

Das Stimmungstestlein

Loading…

Loading…

Loading…

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein