Deutsche Demokratie gerät unter Beschuss

Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,

wenn Demokraten beginnen, den Feinden der Demokratie nach dem Mund zu reden, geraten Recht und Toleranz ins Wanken. Die Art und Weise, wie in diesem Herbst über Flüchtlinge diskutiert wird, wie Migranten von vielen Politikern und Medien ausschließlich als Problem dargestellt werden, wie im Internet, in Kneipen und in Wohnzimmern die allgemeine Wut über die Wirtschafts- und Inflationskrise brodelt, weist beunruhigende historische Parallelen auf.

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Geschichte wiederholt sich nicht, und das Deutschland von heute ist zum Glück ein gefestigter Rechtsstaat. Aber eine Demokratie ist kein Naturgesetz, sie muss jeden Tag aufs Neue belebt und verteidigt werden, sonst verdorrt sie und stirbt irgendwann. Leider ist die gegenwärtige Welt- und Wirtschaftslage nicht förderlich für Demokratien.

Extremisten und Populisten rechts und links erstarken, ob sie nun Höcke oder Wagenknecht heißen. In Thüringen flirten CDU-Parlamentarier mit der radikalen AfD-Truppe, die den Rechtsstaat torpediert und die EU abschaffen will. Derzeit noch mit verbalen Angriffen, aber das muss nicht so bleiben. Die Verbote der Neonazi-Gruppen “Hammerskins” und “Artgemeinschaft” verdeutlichen, wie tief das rechte Gift schon in die Gesellschaft hineingesickert ist. In Bayern machen AfD-Politiker mit SA-Parolen Wahlkampf.

Manche AfD-Kader verstehen sich als parlamentarischer Arm militanter Verfassungsfeinde. Andere pflegen dubiose Verbindungen zu ausländischen Geheimdiensten, wie unser Recherche-Team soeben aufgedeckt hat: Das Umfeld des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl hat Geld aus China erhalten. Offenkundig versucht nicht nur der Diktator in Moskau, sondern auch der in Peking, die deutsche Demokratie zu destabilisieren, indem er hierzulande Extremisten aufpäppelt.

Wer sich für Geschichte interessiert, dem kommt all das auf unheimliche Weise bekannt vor: die tiefe Wirtschaftskrise, die kollektive Wut auf die Regierenden, das Erstarken der Extremisten und das Schwanken der Demokraten, die ausländische Einflussnahme. Man soll vorsichtig sein mit historischen Vergleichen, das Heute ist anders als das Gestern; aber auffällige Parallelen sollte man benennen – lieber früher als zu spät. Deshalb lohnt sich heute Morgen ein Blick 100 Jahre zurück, in den Oktober 1923.

Damals stand Deutschland vor der Zerreißprobe, eine Hiobsbotschaft jagte die andere: Putsch der Schwarzen Reichswehr, Rücktritt der Regierung, in Sachsen und Thüringen gelangen Kommunisten an die Macht. Separatisten rufen in Aachen einen eigenen Staat aus, kurz darauf flammen im ganzen Land Unruhen auf, Straßenkämpfe zwischen Rechten und Linken erschüttern Berlin. Die Inflation katapultiert den Dollar binnen Tagen auf einen Gegenwert von 40 Milliarden Reichsmark, in Großstädten verhungern Menschen. Für einen Laib Brot muss man waschkörbeweise Geldnoten zum Bäcker tragen, und auf den Straßen reimen die Kinder: “Eins, zwei, drei, vier, fünf Millionen / meine Mutter, die kauft Bohnen / zehn Milliarden kost’ das Pfund / und ohne Speck / – du bist weg!”

In München rotten sich die Sturmtruppen der SA zusammen, um der Demokratie den Todesstoß zu versetzen: Anfang November wagen sie den Putsch. Er scheitert nur deshalb, weil mehrere konservative Verbündete im letzten Moment Adolf Hitler die Gefolgschaft verweigern. Der demokratische Staat wankt, aber noch fällt er nicht. Doch die Feinde der Demokratie treiben ihr zersetzendes Werk weiter, verbünden sich, rüsten auf, infiltrieren Behörden und Ministerien mit ihren Leuten – und profitieren davon, dass konservative Politiker sie verharmlosen oder mit ihnen paktieren. In seinem 1923 erschienenen Debütroman “Das Spinnennetz” beschreibt der Schriftsteller Joseph Roth das Wuchern dieses gesellschaftlichen Tumors und prognostiziert auf prophetische Weise, wo das alles zehn Jahre später enden wird: in der Errichtung der totalitären Diktatur, die jeden zermalmt, den sie zum Feind erklärt.

Roths Erzählung umfasst gerade einmal 70 Seiten. Sie ist heute nur noch wenigen Lesern bekannt; die letzte Ausgabe ist in einem kleinen Wissenschaftsverlag erschienen. Dabei sollte es das Buch des Jahres sein. Die brillante Charakterstudie eines Nazi-Mitläufers erzählt viel über das Damals – und offenbart zugleich erschreckende Parallelen zum Heute. Auch ohne Hunger und Straßenkämpfe steht die Demokratie wieder unter wachsendem Druck von Extremisten.

Wo wird Deutschland in zehn Jahren stehen? Werden wir den gegenwärtigen Krisensturm überwunden haben, gestärkt und geeint in die Zukunft schauen? So kann es kommen, aber das gelingt nur, wenn die Demokraten heute zusammenhalten. Und wenn sie den Rechtsstaat, die Toleranz und auch die Würde der Schwachen verteidigen.

Ohrenschmaus

Was steht an?

Hamburg: Die Hansestadt eröffnet das diesjährige Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit. Neben dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher kommt auch dessen Vorgänger, der heute im Kanzleramt sitzt. Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und der Ost-Beauftragte Carsten Schneider sind in der Stadt. Am Nachmittag wird im Hafen das größte Containerschiff unter deutscher Flagge getauft: Die “Berlin Express” ist fast 400 Meter lang und mit 61 Metern fast so breit wie das Brandenburger Tor. Passt also zum Feiertag morgen.

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