Chinas Aufstieg: Das Ende unserer Ära

Liebe Leserin, lieber Leser,

von diesem Mann haben Sie womöglich noch nie gehört. Ich jedenfalls kannte ihn bis vor kurzem nicht. Sein Name ist Zheng He, ein chinesischer Admiral im 15. Jahrhundert. Er unternahm mit seinen Dschunken mehrere große Expeditionen in den Pazifik, unter anderem nach Afrika. In Peking ist man bis heute stolz auf diesen eigenen berühmten Entdecker, der dort wie eine Art chinesischer Humboldt verehrt wird.

Erzählt vom Seefahrer Zheng He hat neulich der chinesische Botschafter in Washington. Dort gab es an der Howard University vor einiger Zeit eine Konferenz, an der Menschen aus der afrikanischen Diaspora teilnahmen. Chinas Chefdiplomat überlieferte folgende Geschichte: “Von seinen Reisen nach Afrika brachte Zheng He eine Giraffe nach China mit.” Dann machte er eine bedeutungsschwangere Pause und fügte hinzu: “Er brachte keine Sklaven.”

Die Botschaft, die bei der afrikanischen Zuhörerschaft ankommen soll: Während die westlichen Staaten euren Kontinent über Jahrhunderte hinweg ausgeraubt und kolonisiert, eure Bevölkerungen ermordet und versklavt haben, war China stets an einer ehrlichen Partnerschaft auf Augenhöhe interessiert. Dieses Narrativ ist ein wichtiger Teil von Chinas Strategie, seinen Einfluss in Afrika und an vielen anderen Orten der Welt zu sichern und die westlichen Staaten auszubooten. Peking rennt damit in vielen Staaten der Welt offene Türen ein. Auch wenn China keineswegs immer Partnerschaften auf Augenhöhe anbietet.

Erlebt hat diese Szene mit dem chinesischen Botschafter Zheng He eine amerikanische Professorin an jener Washingtoner Howard University. Vor einigen Tagen erzählte sie davon der deutschen Außenministerin. Annalena Baerbock hörte zu und sagte dann: “Ich denke, ich werde Sie und auch den chinesischen Botschafter in meinen kommenden Reden zitieren, weil ich denke, dass das den Finger in die richtige Wunde legt.”

Diese Wunde beschrieb Baerbocks amerikanischer Amtskollege Antony Blinken in einer bemerkenswert deutlichen Rede einen Tag zuvor. An der Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS), einer anderen Washingtoner Universität, sagte er: “What we’re experiencing now is more than a test of the post-Cold War order. It’s the end of it.” Auf Deutsch: “Was wir derzeit erleben, ist mehr als nur der Test einer Weltordnung nach dem Kalten Krieg – es ist ihr Ende.”

Die Gründe liegen auf der Hand: Der Aufbau der internationalen Zusammenarbeit werde nicht nur immer komplexer. Es gebe immer mehr geopolitische Spannungen und ein inzwischen riesiges Ausmaß globaler Probleme, so Blinken weiter. Dann folgte sein Satz zu China: “Unterdessen stellt die Volksrepublik China die größte langfristige Herausforderung dar, weil sie nicht nur die internationale Ordnung umgestalten will, sondern auch zunehmend über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, genau das zu tun.” Peking und Moskau arbeiteten im Rahmen ihrer “grenzenlosen Partnerschaft” zusammen, um die Welt mehr und mehr zu einem Platz für Autokratien zu machen, so Blinken.

Aber wie konnte das geschehen? Das über Jahrzehnte anerkannte Kernelement der internationalen Zusammenarbeit waren die Vereinten Nationen. So dysfunktional und bürokratisch sie wohl vom ersten Tag an auch gewesen sein mögen. Die UN waren trotz Rückschlägen, wie beim Völkermord in Ruanda, zumindest immer wieder in der Lage, auf verschiedene Krisen zu reagieren.

Jetzt aber, so scheint es, ist diese nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Institution mit Sitz in New York in einer echten Existenzkrise. Die Vereinten Nationen müssen darum dringend reformiert werden, zugunsten der vielen kleinen und vermeintlich unbedeutenden Staaten auf der Welt. Dafür muss der Westen, gerade auch die Weltmacht USA, Veränderungen vornehmen. Die eigenen Fehler der Vergangenheit, etwa die amerikanischen Lügen zum Irak-Krieg, erweisen sich besonders heute in Zeiten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine als echte Bürde.

Ablesen lässt sich die Krise der UN schon symbolisch anhand von demonstrativer Abwesenheit. Zwar sollen bei der jährlich stattfindenden UN-Generalversammlung in dieser Woche in New York mehr als 140 Staats- und Regierungschefs kommen. Aber die entscheidenden Staatenlenker aus dem mächtigsten und zugleich dysfunktionalsten UN-Gremium kommen nicht. Von jenen fünf Staaten aus dem UN-Sicherheitsrat wird nur der amerikanische Präsident Joe Biden anreisen. Russland und China halten es wie immer nicht für nötig, mit Xi Jinping oder Wladimir Putin zu erscheinen. Aber auch Frankreich und Großbritannien werden nicht von Emmanuel Macron und Rishi Sunak vertreten.

Es ist nicht das erste Mal in den vergangenen Wochen, dass Chinas Präsident Xi Jinping seine Gleichgültigkeit bezüglich internationaler Formate demonstriert. Auch beim vergangenen G20-Gipfel in Indien war er nicht aufgetaucht. Zur UN-Generalversammlung schickt er nun nicht mal seinen Außenminister. Stattdessen bemühen sich Staaten wie China, Russland oder Indien lieber um ihre eigenen internationalen Formate, etwa die geplante riesige Erweiterung der BRICS-Staaten, die neulich beschlossen wurde und zu denen auch Iran, Saudi-Arabien, Äthiopien, Argentinien und Ägypten stoßen sollen.

Gelingen können solche Pläne, weil Formate wie die G7 und G20, aber auch die NATO, die WTO, der IWF, die Weltbank und selbst die UN insgesamt westlich, europäisch und klar amerikanisch dominiert waren. Viel Vertrauen wurde durch westliche Doppelmoral verspielt. Und mit ihren Dauerblockaden im UN-Sicherheitsrat verstärken Russland und China diesen Vertrauensverlust in die Institution zusätzlich. Sind die Vereinten Nationen nicht mehr in der Lage, die Probleme vieler Staaten auf der Welt zu lösen, kümmern sich immer mehr Länder um sich selbst und greifen dabei nach anderen, auch autokratischen Ankern.

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