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Die Geschichte der Bundesrepublik kennt zahlreiche politische Rücktritte – und Forderungen danach. Derzeit sieht sich FDP-Chef Christian Lindner damit konfrontiert. Politologe Volker Kronenberg erklärt, wann Politiker zurücktreten.

Die Bundesrepublik Deutschland war kaum gegründet, da trat 1950 mit Gustav Heinemann schon der erste Bundesminister zurück. Seitdem sind zahlreiche Politiker von ihren Ämtern zurückgetreten, aus unterschiedlichsten Gründen. Derzeit steht FDP-Chef Christian Lindner wegen des sogenannten D-Day-Papiers im Zentrum von Rücktrittsforderungen.

Warum treten Politiker zurück? Warum ist ein Rücktritt nicht automatisch ein Scheitern? Diese Fragen beantwortet Volker Kronenberg, Politologe und Mitherausgeber des Buches „Rücktritte von politischen Ämtern“ im Gespräch.

t-online: Professor Kronenberg, das Wort „Rücktritt“ ist aus dem politischen Alltag kaum wegzudenken: Mal werden etwa Rücktritte gefordert, mal werden Rücktritte ausgeschlossen. Wann treten Politiker zurück?

Volker Kronenberg: Es gibt nicht den einen Grund für einen politischen Rücktritt, sondern es kann unterschiedliche Motive geben. Grundsätzlich können wir aber zwischen dem freiwilligen Rücktritt und dem erzwungenen Rücktritt unterscheiden.

Der erzwungene Rücktritt dürfte öfter vorkommen, während der freiwillige Rücktritt eher Ausnahme ist, oder?

Vermutlich ist das so. Oft sind die wahren Hintergründe nebulös. Bei erzwungenen Rücktritten müssen wir unterscheiden: Liegt der Grund in einer persönlichen Verfehlung oder übernimmt jemand politische Verantwortung für eine Fehlentwicklung?

Für beides finden sich in der Geschichte der Bundesrepublik Beispiele. 1962 erzwang die FDP den Rücktritt von Franz Josef Strauß als Verteidigungsminister, 1993 trat Bundesinnenminister Rudolf Seiters zurück.

Das sind gute Beispiele. Franz Josef Strauß hat in der sogenannten Spiegel-Affäre rund um veröffentlichte Informationen zur Bundeswehr 1962 mehr als fragwürdig agiert, die FDP-Minister schieden im Protest aus der Koalition mit der Union aus und kehrten erst nach Strauß‘ Rücktritt zurück. Seiters hingegen trat zurück, weil es bei einem Polizeieinsatz in Bad Kleinen gegen die RAF zu Todesfällen mit unklarem Hintergrund gekommen war. Unmittelbar nach dem Todesfall kursierten Fehlinformationen, zum Teil auch Spekulationen, und Versäumnisse staatlicher Behörden wurden offengetragen. Seiters übernahm die politische Verantwortung dafür – und zog die Konsequenzen. Rücktritte haben oft mit politischer Verantwortung zu tun, sind aber nicht zwangsläufig Folge persönlicher Verfehlungen.

Volker Kronenberg, Jahrgang 1971, ist Akademischer Direktor und Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und zugleich Co-Gründungsdirektor des dortigen Centers for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS). Der Parteienforscher ist Autor zahlreicher Bücher, 2024 gab er den Band „Rücktritte von politischen Ämtern. Perspektiven auf das Ende von politischen Karrieren“ (mit Manuel Becker und Christopher Prinz) heraus.

1974 trat Bundeskanzler Willy Brandt wegen der Guillaume-Affäre zurück, ein enger Mitarbeiter war als Spion der Stasi enttarnt worden. Wäre dies ein solcher Fall?

Absolut. Brandt hatte sich persönlich nichts vorzuwerfen, auch die Öffentlichkeit forderte keineswegs seinen Kopf. Brandt trat trotzdem zurück, womöglich eröffnete ihm die Affäre auch einen Ausweg, denn er war amtsmüde.

Der Blick in die Geschichte der Bundesrepublik zeigt allerhand Rücktritte. Lässt sich so etwas wie eine „Kultur des politischen Rücktritts“ identifizieren?

Nein. So etwas ist in Deutschland unbekannt. Es ist schon etwas erstaunlich angesichts der Tatsache, dass es bereits kurz nach Gründung der Bundesrepublik 1949 einen prominenten Fall des Rücktritts gab. Gustav Heinemann trat im Streit um die Wiederbewaffnung mit Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits 1950 von seinem Amt als Bundesminister des Inneren zurück.

Langfristig hat es Heinemann nicht geschadet. 1969 wählte die Bundesversammlung den zur SPD konvertierten Politiker zum dritten Bundespräsidenten.

Das ist ein wichtiger Punkt. Rücktritte sind nicht immer das Ende einer politischen Karriere. Sie können ein vorläufiger Endpunkt oder ein Aufbruch zu höheren Ämtern sein. Ein Rücktritt ist nicht zwangsläufig ein Scheitern, vom Scheitern sind diese Leute oft weit entfernt. Oft markieren sie Neuanfänge.

Gegen FDP-Chef Christian Lindner stehen Rücktrittsforderungen wegen des sogenannten D-Day-Papiers im Raum, das den vorzeitigen Bruch der Partei mit der Ampelkoalition skizzierte. Wäre ein Rücktritt fällig?

Mein Eindruck ist, dass dieser Vorgang medial und seitens der politischen Konkurrenz deutlich überbewertet wird. Abgesehen von der unpassenden Begriffswahl handelt es sich allerdings um übliche Prozesse in einer solchen Parteizentrale. Derartiges ist kein Grund für den Rücktritt eines Parteivorsitzenden. Zumal dann, wenn der dafür zuständige Bundesgeschäftsführer und sogar der Generalsekretär ihrerseits zurückgetreten sind.

Volker Kronenberg: Ein Rücktritt muss nicht das Ende einer politischen Karriere sein, so der Politologe. (Quelle: Schafgans)
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