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Immer mehr junge Männer tragen Messer – und die Zahl der Angriffe steigt. Doch nicht Herkunft oder Kriminalität erklären den Trend, sondern etwas viel Tieferes: ein Kampf um Anerkennung, Macht und Männlichkeit.

Die Zahl der Messerstraftaten in Deutschland ist im Vergleich zu 2023 gestiegen. Messerangriffe sind kein Randphänomen: In deutschen Städten häufen sich die Angriffe – allein in NRW schnellten die Zahlen 2024 um über 20 Prozent nach oben. Der Grund? Kein einfacher. Kriminologe Prof. Dirk Baier spricht im Interview mit t-online über verlorene Orientierung, gefährliche Ideale und warum Messer heute das Statussymbol einer verunsicherten Generation sind.

t-online: Die Messerkriminalität in Deutschland zeigt in den vergangenen zwölf Monaten regional unterschiedliche Entwicklungen, wobei insgesamt ein Anstieg zu verzeichnen ist. Wie ist dieser Anstieg zu erklären? Und ist die Statistik aussagekräftig?

Wir haben bislang weitestgehend nur Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, die von der Anzeigebereitschaft abhängig sind. Da diese beispielsweise auch Drohungen mit Messern beinhalten, die nur teilweise angezeigt werden, spielt die Anzeigebereitschaft auch in diesem Phänomenbereich eine Rolle.

Dass die Zahlen eher im Anstieg begriffen sind, hängt sicherlich zunächst einmal damit zusammen, dass die Menschen – vor allem junge Männer – die Messer häufiger mit sich führen. Dieses Mitsichführen hängt dann damit zusammen, dass auch verbotene Messer sehr leicht beschaffbar sind; dass Messer Symbole sind, die Männlichkeit und Dominanz symbolisieren und dass es ein Stück weit eine Mode geworden ist, Messer bei sich zu tragen. Viele Gleichaltrige tun es. Also muss man sich, um anerkannt zu werden, eben auch Messer tragen, so die Logik dahinter.

Insbesondere in NRW stiegen die Messerstraftaten 2024 um über 20 Prozent auf fast 7.300 Fälle. Warum gerade hier?

Es gibt durchaus auch aus anderen Teilen Deutschlands Hinweise auf steigende Messerkriminalität. So zeigten in der Vergangenheit etwa die Daten von Krankenhäusern zu Eingewiesenen mit Stichverletzungen in Berlin und anderen Städten, dass eine negative Entwicklung zu existieren scheint. Warum ausgerechnet in NRW die Zahlen steigen, kann aus meiner Sicht kriminologisch nicht erklärt werden, da NRW in seiner Struktur und seiner Entwicklung nicht völlig anders ist als der Rest Deutschlands.

Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass dieses Thema in NRW seit einiger Zeit ganz oben auf der Tagesordnung steht: Der Innenminister Herr Reul hatte als einer der Ersten einen 10-Punkte-Plan aufgestellt. Ein Nebenprodukt dieser Aufmerksamkeit könnte sein, dass auch mehr Menschen Anzeige in Bezug auf diese Taten erstatten.

Sachsen-Anhalt verzeichnete hingegen in den ersten zehn Monaten von 2024 einen Rückgang. Was könnte hier der Hintergrund sein?

Ich denke, wir sollten immer längere Zeitreihen zum Ausgangspunkt von Interpretationen nehmen. Kriminalitätszahlen schwanken mehr oder weniger; richtig bedeutsam sind Entwicklungen erst dann, wenn sie zum Beispiel drei Jahre hintereinander steigen oder fallen.

Ich kann derzeit nicht sagen, warum Sachsen-Anhalt derzeit einen Rückgang verzeichnet. Vielleicht ist es einfach Zufall – gerade schwere Messerkriminalität passiert ja nicht tagtäglich und es müssen schon einige Bedingungen zusammenkommen, dass wir solche Taten haben. Vielleicht hat Sachsen-Anhalt auch stärker als andere Bundesländer mehr Ressourcen in die Prävention gesetzt, zum Beispiel durch mehr Polizeikontrollen oder mehr Aufklärungsarbeit an Schulen.

Im öffentlichen Diskurs sind vor allem öffentliche Attacken gemeint, wenn von Messerstraftaten die Rede ist. Häusliche Gewalt läuft hingegen unter dem Radar. Wie ist die prozentuale Verteilung? Und wird diese Differenz überhaupt in der Statistik erfasst?

Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik können wir derzeit bisher nicht ablesen, wie die Verteilung nach Tatort beziehungsweise Täter-Opfer-Beziehung ist. Es gibt aber kriminologische Studien, die aufzeigen, dass etwa die Hälfte der Fälle von Messerkriminalität im öffentlichen Raum stattfindet. Insofern kann gesagt werden, dass häusliche Gewalt durchaus einen bedeutsamen Teil der Messerkriminalität ausmacht.

Besonders junge Männer scheinen eine Vorliebe für Messer zu entwickeln. Das Messer als Statussymbol: Was ist hier der Reiz oder Anziehungskraft? Wie kommt so ein Statussymbol zustande?

Männlichkeitskonzepte, die Dominanz, Stärke, Selbstdurchsetzung und so weiter beinhalten, sind wieder auf dem Vormarsch. Dies zeigen Befragungsstudien. Vor allem für junge Männer, denen es an schulischem Erfolg, stabilen Alltagsstrukturen oder Perspektiven fehlt, wirken mediale Vorbilder mit markantem Auftreten und starker Körperinszenierung offenbar besonders anziehend.

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