Die dunkle Seite des Oktoberfestes

K.-o.-Tropfen im Bier, Penis am Po – und eine überkommene Ansicht


Aktualisiert am 02.10.2024 – 16:59 UhrLesedauer: 3 Min.

Feiernde auf dem Oktoberfest (Archivbild). (Quelle: watson)

In der ersten Oktoberfestwoche haben deutlich mehr Mädchen und Frauen den „Safe Space“ auf der Wiesn aufgesucht. Worum es ging – und woher der Anstieg kommt.

Evelyn Burdecki war entsetzt. Mit einer Freundin drängte sie sich durch die Menschenmassen auf dem Oktoberfest, als sich eine Männergruppe hinter sie schob. „Und als wir irgendwann standen und warteten, habe ich bei dem einen doch tatsächlich einen Penis an meinem Po gespürt“, berichtete die TV-Bekanntheit schon zu Beginn der Wiesn.

Ihr Resümee: „Ich würde nie alleine über die Wiesn laufen.“ Sie flirte zwar auch gerne, sagte Burdecki, „aber ein schönes Kleid ist keine Einladung, mich einfach anzutatschen, mir ins Dekolleté zu fassen oder mich mit Sprüchen zu beleidigen“.

Klare Worte, deren Inhalt allerdings wohl noch lange nicht alle Männer begriffen haben – wie auch die Zwischenbilanz der Aktion „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“ zeigt. 181 Mal ersuchten demnach in der ersten Wiesn-Woche Menschen im „Safe Space“ auf dem Oktoberfest um Hilfe. Plus 27 Prozent: Das ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr, als es im gleichen Zeitraum 143 Hilfesuchende gegeben hatte.

In einigen Fällen ist es zu schweren Angriffen auf die sexuelle Selbstbestimmung gekommen: In insgesamt fünf Fällen bestand den Verantwortlichen der Aktion zufolge der Verdacht, dass K.-o.-Tropfen verabreicht worden waren. Neun Frauen und Mädchen berichteten über sexualisierte Gewalt, weitere drei hatten anderweitige körperliche Gewalt erfahren.

Die Zahl dieser besonders schwerwiegenden Fälle bewegt sich in etwa auf dem Niveau des Vorjahres, als von der Aktion „Sichere Wiesn“ zur Halbzeit sieben K.-o.-Tropfen-Verdachtsfälle und elf Gewaltdelikte gegen Frauen erfasst worden waren. Das passt zu den Erfahrungen der Polizei. Die Zahlen der Beamten unterscheiden sich zwar von denen der Aktion, weil die Polizei nur zur Anzeige gebrachte Fälle zählt und umgekehrt nicht jeder angezeigte Fall auch im „Safe Space“ registriert wird. Aber die Tendenz ist klar: Die Zahl der Sexualdelikte ist mit bisher angezeigten 31 Fällen ähnlich hoch wie im Vorjahr (2023: 34).

Beim Großteil handele es sich um sexuelle Belästigungen und Verletzungen des Intimbereichs durch Bildaufnahmen, Upskirting genannt, teilten die Beamten mit. Einmal sei der Tatbestand einer Vergewaltigung erfüllt gewesen (2023: 2). Ein Täter habe einer Frau unter den Rock gegriffen und gegen ihren Willen sexuelle Handlungen vorgenommen. Ein zweiter Fall befinde sich noch in der Prüfung.

Die Aktion „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“ leitet aus diesen Zahlen auch eine gute Nachricht ab. Die Zunahme der Hilfesuchenden im „Safe Space“ bedeute nicht, dass die Sicherheit für Frauen und Mädchen auf der Wiesn abgenommen habe, vielmehr würden die jahrelange Präsenz und die Öffentlichkeitsarbeit der geschulten Helferinnen Wirkung zeigen.

Die „Sichere Wiesn“ werde immer bekannter, sagte Sprecherin Kristina Gottlöber dem „Focus“. Hinzukomme ein politischer und gesellschaftlicher Wandel: Erst seit 2021 ist es in Deutschland ausdrücklich verboten, heimliche Aufnahmen vom Intimbereich zu machen („Upskirting“). Auch ungewünschtes Anfassen ist erst seit einer Reform im Jahr 2016 ein Straftatbestand und als sexuelle Belästigung verboten.

Überkommene Ansichten: „Selbst schuld“, „Zieht euch anders an“

„Bei vielen, vor allem jungen Frauen wächst das Bewusstsein, sich das nicht mehr bieten lassen zu müssen“, so „Sichere Wiesn“-Sprecherin Gottlöber. Auch bei Wirten, Sicherheitspersonal, Standbetreibern und Besuchern würden Unrechtsbewusstsein und Mut zur Zivilcourage zunehmen: „Sie bagatellisieren das nicht mehr.“

Aussagen, die die Schuld umkehren, gebe es aber leider weiterhin, sagte Manuela Soller von der Aktion „Sichere Wiesn“ t-online. Manche würden Frauen immer noch auffordern, sich anders anzuziehen oder nicht so viel zu trinken, um sich zu schützen. Solche Ansichten seien überkommen. „Das Ziel wäre, dass sich jede Frau so anziehen kann und flirten kann, wie sie möchte, ohne belästigt zu werden.“

Bei vielen Fällen im „Safe Space“ ging es Soller zufolge in erster Linie darum, einen sicheren Heimweg zu organisieren, wenn etwa Freundinnen oder Angehörige im Gewusel verloren gegangen sind. In vielen anderen Fällen waren den Klientinnen Wertgegenstände wie Handy, Handtasche oder Hotelschlüssel verloren gegangen oder geklaut worden. Weitere Frauen und Mädchen erlebten psychische Krisen oder Panikattacken, die unter anderem durch das Gedränge auf dem Oktoberfest ausgelöst wurden.

Zwei Drittel aller Hilfesuchenden waren jünger als 30 Jahre, darunter 34 Minderjährige, teilte die Aktion „Sichere Wiesn“ mit. Zu finden ist der „Safe Space“ im Servicezentrum auf der Theresienwiese hinter dem Schottenhamelzelt (Eingang „Erste Hilfe“). Öffnungszeiten an allen noch verbleibenden Wiesntagen: von 15.30 Uhr bis 1 Uhr.

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