Die Migrationspolitik in Europa funktioniert nicht, die Debatte ist aufgeheizt und führt zu zweifelhaften Lösungen. Wie könnte es besser werden?
Über wenige Themen debattiert Deutschland seit Jahren so ausführlich wie über die Migration. Trotzdem scheint nur selten jemand mal wirklich mit den politischen Lösungen zufrieden zu sein. Selbst die handelnden Politiker oft nicht. Die Fronten in der Debatte sind verhärtet.
Erik Marquardt, 36 Jahre alt, beschäftigt sich seit 2015 mit Migration und Asyl. Er hat die Fluchtrouten nach Europa zunächst als Fotojournalist bereist und macht seit 2019 im Europäischen Parlament als Abgeordneter für die Grünen Asylpolitik.
Wie kommen wir zu einer Migrationspolitik, die besser funktioniert? Darüber spricht Marquardt im Interview mit t-online. Er sagt: „Wir können immer wieder gegen die gleiche Wand laufen. Dann werden wir aber nur dümmer.“
t-online: Herr Marquardt, gibt es in Deutschland ein Problem mit Migration?
Erik Marquardt: Es gibt ein großes Problem mit Migration. Politisch ist das Problem, dass wir seit mehreren Jahren eine Diskussion führen, die völlig von den Problemen entkoppelt stattfindet. Und damit auch von möglichen Lösungen. Wir diskutieren falsch über Migration und Asyl.
Was bedeutet das konkret? Die Zahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge hat kürzlich mit 3,48 Millionen einen neuen Höchststand erreicht. Es gibt Kommunen, die darüber klagen, es nicht mehr zu schaffen. Muss die Politik darauf hinarbeiten, dass weniger Asylsuchende ankommen?
Natürlich. Das Ziel der Politik muss sein, dass möglichst wenig Menschen auf der Welt nach Europa und nach Deutschland fliehen. Die Frage ist nur, wie wir das hinbekommen – und welcher Denkschule wir dabei angehören wollen.
Welche stehen zur Auswahl?
Liberale Demokratien sagen eigentlich: Wir wollen Ursachen bekämpfen, eine faire Verteilung mit unseren Verbündeten und die Fluchtmigration in rechtsstaatlichen Verfahren gut organisieren. Es braucht gesellschaftlichen Zusammenhalt und gute Integration. Die anderen sagen: Wir wollen mit autoritären Maßnahmen verhindern, dass Menschen nach Europa fliehen können. Recht des Stärkeren? Stärke des Rechts? Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit? Egal, Hauptsache weg.
Ein Einwand lautet: Wir können nicht allen helfen, ohne unsere liberalen Demokratien zu überfordern.
Allen helfen müssen wir ohnehin nicht, weil gar nicht alle zu uns wollen. Wenn wir nur in Horrorszenarien denken oder sprechen, wird das keine vernünftige Politik. Aber im Moment sind es in zu vielen Kommunen zu viele Menschen für die vorhandenen Integrationsstrukturen, das ist richtig. Die Frage ist aber: Wie ändern wir das wirklich?
In der Migrationsdebatte wird inzwischen von vielen der Eindruck erweckt, man könne mit einfachen Maßnahmen eine ganz andere Welt bauen, in der Deutschland keine Probleme mehr hätte. Das stimmt nur leider nicht, es lenkt von der echten Mammutaufgabe ab. Und es gibt den Leuten Auftrieb, die nie selbst gestalten müssen, die eigentlich gar keine Lösungen wollen. Mit dem Nachahmen der falschen populistischen Antworten kapitulieren demokratische Parteien vor den Rechtspopulisten. Es wäre jetzt an der Zeit, die weiße Fahne einzupacken und zu kämpfen.
Was also tun angesichts der Mammutaufgabe?
Es ist erst einmal wichtig, dafür zu werben, dass wir den Weg liberaler Demokratien gehen wollen. Weil liberale Demokratien große Vorteile haben, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel. Oder dass sich jeder Mensch hier vor Gerichten gegen Willkür des Staates wehren kann. Es wurde zu wenig begründet, warum Demokratien nicht perfekt, aber der bestmögliche Weg sind, und das ist ein Problem. Wir müssen aber auch ehrlich eingestehen: Rechtsstaatlichkeit bedeutet dann auch Zumutungen. Nicht jeder Mensch hat ein Recht auf Asyl, aber das wird in rechtsstaatlichen Verfahren geklärt und nicht mit dem Knüppel. Praktisch lassen sich viele Vorschläge wie ein Aufnahmestopp nur mit Knüppeln durchsetzen. Das ist mir etwas zu mittelalterlich.