Die Grünen stecken in der Krise und suchen einen neuen Kurs. In einem Papier aus dem Osten rechnen einige nun radikal mit ihrer Partei ab – und mahnen ein Umdenken an.
Grüne aus Ostdeutschland fordern in einem Strategiepapier einen „radikalen Kurswechsel“ von ihrer Partei, um nicht in der „politischen Irrelevanz“ zu verschwinden. Sie beklagen einen „immensen Vertrauensverlust“ in die demokratischen Parteien, der zu lange nicht ernst genommen worden sei – und sehen Ostdeutschland als „Seismograf für die gesamte Republik“.
Das Papier ist von der Thüringer Spitzenkandidatin von 2024, Madeleine Henfling, sowie Luna Möbius und Thea-Helene Gieroska aus Sachsen-Anhalt geschrieben. Auf 23 Seiten wollen sie eine „dringend überfällige Problemanalyse“ und eine „lösungsorientierte Strategie“ liefern. Nicht als „Diskussionsvorschlag“, sondern als „klare Handlungsanweisung“ an die Partei.
Nach der Niederlagenserie der Grünen bei Wahlen nicht nur in Ostdeutschland enthält das Papier zunächst deutliche Kritik. „Die Wahlergebnisse sind keine Warnsignale mehr – sie sind ein unmissverständlicher Beweis für das politische Versagen der letzten Jahre“, heißt es etwa. „Wenn wir nicht endlich begreifen, dass wir als Partei nicht nur für urbane Milieus im Westen Politik machen können, dann werden wir im Osten endgültig irrelevant.“
Die Grünen kritisieren: „Wir haben uns abgekapselt, nicht zugehört, nicht verstanden. Wir haben soziale Fragen ignoriert, uns hinter Klientelpolitik versteckt und uns in einer Verteidigungshaltung eingegraben, während CDU und AfD uns zur Hauptgegnerin erklärt haben.“
Den „radikalen Kurswechsel“, den sie für die Grünen nun für nötig halten, beschreiben sie in Kurzform so: „mehr soziale Gerechtigkeit, mehr wirtschaftliche Perspektiven, mehr Nähe zu den Menschen, weniger moralische Überlegenheit, weniger Arroganz, weniger Selbstbeschäftigung. Es bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen, Brücken zu bauen, auch mit denen, die uns bisher kritisch sehen.“
Für die Krise der Demokratie besonders im Osten machen die Grünen zwar vor allem allgemeine Ursachen aus, etwa die „wirtschaftliche Benachteiligung“ oder eine „gesellschaftliche Entfremdung“. Doch die Grünen spielten dort eben „kaum noch eine Rolle“. Ziel müsse deshalb sein, „in Ostdeutschland wieder als gestaltende Kraft wahrgenommen zu werden – nicht als ein urbanes Elitenprojekt aus dem Westen“.
Zu den Gründen der Grünen-Krise im Osten heißt es unter anderem: „Wichtige ostdeutsche Köpfe fehlen oder sind medial nicht präsent.“ Es fehle an einer ernsthaften Oststrategie der Gesamtpartei, „Hinweise aus den ostdeutschen Bundesländern werden selten ernst genommen, geschweige denn in politisches Handeln übersetzt“.
Um das zu ändern, fordern die Grünen unter anderem einen regelmäßigen „Ostkongress“ auf Bundesebene, eine „Taskforce Ost als ständiges Gremium“ beim Bundesvorstand, eine „Mindestanzahl ostdeutscher Mitglieder“ für alle Bundesgremien sowie Förder- und Austauschprogramme für Talente. Kleine Kreisverbände sollen aus einem „Ost-Fonds“ einen Anteil der Mitgliedsbeiträge von andernorts bekommen, zudem soll es langfristig Geld aus einer „jährlichen Strukturförderung“ geben.
Inhaltlich stellen sich die Grünen unter anderem gegen eine Verengung der Partei auf Natur- und Klimapolitik und plädieren für eine stärkere Rolle der Sozialpolitik. Es stelle sich die Frage, heißt es etwa, „ob wir allein mit unserem Fokus auf Natur- und Klimaschutz – ohne dem Thema seine Relevanz absprechen zu wollen – vor allem in den ostdeutschen Bundesländern noch wirkliche politische Handlungsspielräume schaffen können“. Stattdessen plädieren sie dafür, „auch wieder auf unsere Vergangenheit aus der Bürgerrechtsbewegung“ zu bauen, „Antifaschismus konsequent zu Ende“ zu denken und „die sozialpolitische Lücke“ zu füllen, die auch die SPD öffne.
Auch andere Grüne aus Ostdeutschland begrüßen das Papier. „Die Analyse ist einer von vielen wichtigen Schritten hin zu einem stärken Diskurs über Ostdeutschland in unserer Partei“, sagt der Bundestagsabgeordnete Kassem Taher Saleh aus Sachsen t-online. „Die Wahlergebnisse zeigen, dass dieser Diskurs dringend notwendig ist.“ Es liege viel Arbeit vor den Grünen, sagte Taher Saleh, „und ich bin dankbar für jede Stimme, die genau das laut macht und Lösungen aufzeigt“.
Im vergangenen Jahr waren die Grünen in Sachsen nur knapp wieder in den Landtag eingezogen, sie schieden aber aus der Regierung aus. In Brandenburg und Thüringen verpassten die Grünen sogar den Einzug in den Landtag.